Wo der Lockdown am stärksten zu spüren ist

Marius Faber, Andrea Ghisletta und Kurt Schmidheiny

Mitte März hat der Bund scharfe Massnahmen ergriffen, um die Verbreitung des Coronavirus einzudämmen. Veranstaltungsverbote, Schliessungen von Geschäften, Restaurants und Bars sowie die Empfehlung, wenn immer möglich von zuhause aus zu arbeiten, schränken die wirtschaftliche Aktivität in beträchtlichem Ausmass ein.
Die wirtschaftlichen Folgen dieser Massnahmen hängen stark davon ab, wie viele Arbeitnehmer und Selbstständige in der Lage sind, ihren Job weiterhin uneingeschränkt auszuüben. US-Ökonomen haben dies kürzlich für die USA in einer Studie quantifiziert. Sie zeigen, dass ca. 37% aller Jobs in den USA von zu Hause aus weitergeführt werden können. Diese Zahl verdeckt allerdings erhebliche regionale Unterschiede: Während in einigen Regionen wie dem Silicon Valley in San Jose, CA über die Hälfte aller Berufe Home-Office erlauben, ist dies in anderen Regionen für nur etwas mehr als ein Viertel möglich.

Grosse regionale Unterschiede
Diese regionalen Unterschiede sind auf die hohe Spezialisierung einzelner Arbeitsmarktregionen auf wenige Branchen zurückzuführen. Solche Spezialisierung auf einzelne Branchen ist auch in der Schweiz stark ausgeprägt. Wir haben deshalb dieselbe Analyse für die 26 Kantone und 16 Arbeitsmarktgrossregionen der Schweiz durchgeführt. Hierfür verwenden wir detaillierte Informationen über Beruf, Wohnort und Arbeitsmarktstatus von knapp 70’000 SchweizerInnen. Die Daten stammen aus der Schweizer Arbeitskräfteerhebung (SAKE) für das Jahr 2018, einer vom Bundesamt für Statistik durchgeführten repräsentativen Stichprobe der Schweizer Gesamtbevölkerung. Den Beruf eines Individuums verknüpfen wir mit einer Reihe von Daten über die konkreten Anforderungen, die jeder dieser fast 1‘000 Berufe mit sich bringt. Diese beinhalten beispielsweise, ob der Beruf im Freien ausgeübt wird oder ob das Bewegen von Fahrzeugen essenziell ist. In beiden dieser Fälle gilt ein Beruf nach dieser Methodik als «nicht von zuhause ausführbar». Die Kategorisierung hierfür stammt aus dem Occupational Information Network (O*NET) des US-amerikanischen Department of Labor. Im Unterschied zur US-Studie berücksichtigen wir in all unseren Analysen, dass die Massnahmen des Bundes eine Ausnahme für essenzielle Sektoren wie Gesundheit, öffentliche Sicherheit und Verkehr sowie Lebensmittelversorgung vorsehen.
Die Resultate dieses «Home-Office-Index» für die Schweiz scheinen sich auf den ersten Blick von denen für die USA zu unterscheiden. Im Durchschnitt kann hierzulande ein verhältnismässig grosser Anteil von 56% der arbeitenden Bevölkerung von zuhause aus arbeiten. Dies ist allerdings dadurch zu erklären, dass wir die Sonderregelung für essenzielle Sektoren berücksichtigt haben. Ohne diese Korrektur läge der Wert bei 40% und damit nur leicht über dem der USA. Der Kanton Basel-Stadt weist mit 67% den höchsten Wert auf, der Kanton Appenzell Innerrhoden mit 27% den niedrigsten (Abbildung 1).

Abbildung 1: Home-Office-Index nach Kanton

Kontakt zu anderen Menschen wichtiger als Home-Office
Die Massnahmen des Bundes zielen primär darauf ab, den physischen Kontakt zwischen Menschen zu reduzieren, und nicht darauf, dass sie unbedingt zuhause bleiben. Entscheidender als die Frage, ob der Beruf von zuhause aus ausgeführt werden kann, scheint uns deshalb, ob er in unmittelbarer Nähe zu anderen Menschen ausgeführt werden muss. Beispielsweise können Lastwagenfahrer, Bauarbeiter oder Essenslieferanten ihren Beruf unmöglich von zuhause aus durchführen, waren während der letzten Wochen aber vermutlich dennoch wenig in ihrer Arbeit eingeschränkt.
Um die konkreten Massnahmen der Schweiz (und vieler anderer Länder) besser einzufangen, haben wir deshalb einen einfachen «Lockdown-Index» gebildet, der einen Beruf als «vom Lockdown eingeschränkt» klassifiziert, wenn er eine geringe physische Distanz zu anderen Menschen mit sich bringt (d.h., direkter Körperkontakt bis hin zu einem geteilten Büro) und als «nicht vom Lockdown eingeschränkt», wenn er weniger engen Kontakt erfordert. Im Unterschied zum Home-Office-Index gelten hier zum Beispiel Lastwagenfahrer, Landwirte oder Reinigungskräfte als nicht eingeschränkt.
Die regionale Verteilung des Lockdown-Index ist in Abbildung 2 dargestellt. Im Vergleich zum Home-Office-Index (Abbildung 1) zeigt diese Karte nun, welcher Anteil der Bevölkerung bei der Ausübung des Berufs auf körperliche Nähe angewiesen und somit vermutlich durch den Lockdown stark eingeschränkt ist. Im Durchschnitt über die gesamte Schweiz hinweg sind demnach etwa 31% aller Jobs vom Lockdown direkt eingeschränkt. Am stärksten betroffen sind die innerschweizerischen Kantone Obwalden (39%) und Uri (37%) sowie Appenzell Innerrhoden (38%) und das Wallis (35%). Verhältnismässig wenig betroffen sind die Kantone Jura (27%), Zug (28%) und Genf (28%) sowie Zürich (29%) und Basel-Stadt (29%).

Abbildung 2: Lockdown-Index nach Kanton

Ein ähnliches Bild ergibt sich, wenn wir den durchschnittlichen Lockdown-Index nicht nach Kanton, sondern nach Arbeitsmarktgrossregion bilden (Abbildung 3). Arbeitsmarktgrossregionen berücksichtigen Pendlerströme und geben so ein genaueres Bild darüber ab, wie sich die Anzahl Arbeitssuchender im Einzugsgebiet von dort ansässigen Firmen entwickelt. Die Regionen Zürich und Genf sind weiterhin unter den am wenigsten betroffenen Arbeitsmärkten. Verhältnismässig stark eingeschränkt sind weiterhin das Wallis und nun auch die Regionen St. Gallen, Winterthur und Aarau-Olten. Die Variation ist auf dieser Ebene zwar etwas geringer, da wir Durchschnitte über weniger, dafür grössere Einzugsgebiete bilden, weist aber dennoch starke regionale Unterschiede im Anteil der durch den Lockdown eingeschränkten Berufe auf.

Abbildung 3: Lockdown-Index nach Arbeitsmarktgrossregion

Es ist aufgrund der begrenzten Datenlage zurzeit noch schwierig, die Vorhersagekraft eines solchen Index zu überprüfen. Beispielsweise existieren derzeit noch keine öffentlich verfügbaren Daten über die Kurzarbeitsanträge nach Kanton oder Branche, die einen Grossteil der Reaktion des Arbeitsmarktes ausmachen. Als ersten Versuch können wir allerdings bereits testen, ob unser Index in der Lage ist, den Anstieg der Arbeitslosigkeit im März 2020 im Vergleich zum Vorjahresmonat über verschiedene Branchen hinweg zu erklären. Abbildung 4 zeigt eine starke positive Korrelation zwischen dem Lockdown-Index und dem Anstieg der Arbeitslosigkeit in diesem Zeitraum. Der Lockdown-Index alleine erklärt etwa 29% der gesamten Variation im Arbeitslosenanstieg über diese 34 Branchen. Im Vergleich dazu kann der Home-Office-Index lediglich 16% dieser Variation erklären.

Abbildung 4: Korrelation zwischen Lockdown-Index und Anstieg der Arbeitslosigkeit nach Branche

Verfeinerungen nötig, um Effekt der Massnahmen besser abzuschätzen
Wir sehen diese Analyse als einen ersten Vorstoss, mehr Transparenz darüber zu schaffen, welche Regionen der Schweiz aufgrund ihrer Branchenstruktur besonders von den einschneidenden Massnahmen des Bundes betroffen sein werden. Dafür haben wir uns zunächst darauf fokussiert, ob Menschen in der aktuellen Situation weiterhin ihren Beruf ausführen können oder nicht. Dies scheint bereits ein guter Gradmesser für den kurzfristigen Anstieg der Arbeitslosenzahlen nach Branche und Kanton zu sein. Allerdings wird sich dies noch besser überprüfen lassen, sobald detaillierte Daten zu Kurzarbeit verfügbar sind.

Das Ausmass der Effekte in der längeren Frist hängt allerdings auch von anderen Faktoren ab, wie zum Beispiel davon, ob Firmen Produkte herstellen, die nach der Krise mehr nachgefragt werden, oder ob eine Erweiterung der Kapazitäten unmöglich sein wird. Es ist beispielsweise zu erwarten, dass Produzenten von langlebigen Gütern wie Autos, Elektronikgeräten oder Möbeln nach der Krise eine umso höhere Nachfrage bedienen können, während das für kurzlebige Güter wie Pflanzen und Mode oder auch Restaurant-, Bar- und Konzertbesuche nur begrenzt möglich sein wird. Wir arbeiten daran, solche Interaktionen zu quantifizieren.

[Nachtrag vom Di, 21. April 2020:] Eine Analyse von Christian Rutzer und Matthias Niggli von der Universität Basel beleuchtet im Detail, wie gut sich verschiedene Berufe für die Ausübung im Home-Office eignen, und wie sich dies für die einzelnen Wirtschaftssektoren, Regionen und Bevölkerungsgruppen in der Schweiz unterscheidet.

 

Bedroht Plattformarbeit den Arbeitsmarkt?

Rafael Lalive

Vor 11 Jahren wurde das erste Smartphone an eine grosse Zahl von Menschen verkauft. Seitdem wird die Arbeit neu erfunden. Das Internet, das Smartphone und die Möglichkeit, grosse Datenmengen zu analysieren, erlauben es den Tausch von Arbeit und Dienstleistungen neu zu organisieren und, vor allem, zu flexibilisieren.

Wer heute eine Arbeit sucht, muss seinen Lebenslauf nicht mehr an eine grosse Zahl von Unternehmen senden, und hoffen, dass sie oder er irgendwann oben auf dem Stapel der Bewerbungen landet. Viel zeitgemässer ist es, sich auf einer Plattform als Anbieter einer Dienstleistung zu registrieren. Ein Mausklick reicht und schon wird die Arbeitssuche zur Konsumentensuche.

Plattformen haben viele Namen, (z.B. Upwork oder Taskrabbit), aber alle gibt es nur aus einem Grund. Dank Digitalisierung können Kunden auf einer Plattform nun sofort eine Dienstleistung finden. Anbieter dieser Dienstleistungen können so sehr schnell und sicher mit einem neuen Kunden bekannt werden. Die Qualität der Leistung wird über Bewertungssysteme sichergestellt.

Plattformen schaffen Arbeit

Plattformen schaffen Arbeit. Früher war es schlecht möglich, sich als Hundesitter ein ausreichendes Einkommen zu verdienen, weil einem eventuell nur die Hunde der Nachbarn bekannt waren. Heute registriert sich ein Hundesitter bei einer Plattform und wird instantan für die Hundebesitzer seiner ganzen Umgebung sichtbar. So lässt sich heute ein Auskommen als Hundesitter verdienen, wo dies früher schlecht möglich war.

Plattformen schaffen Arbeit weil sie die Kosten einer Transaktion – eines Tausches von Dienstleistungen oder Arbeit – stark senken. Früher war dies die Aufgabe von Unternehmen. Innerhalb eines Unternehmens konnten viele Arten von Arbeit gebündelt und getauscht werden, ohne dass man die jeweiligen Anbieter hätte suchen und einen neuen Tauschvertrag schreiben müssen. Einige Unternehmen, vor allem die, deren Geschäftsmodell das Senken von Transaktionskosten ist, wie z.B. Reisebüros für Reisen nach Deutschland, werden kleiner werden und evtl. ganz verschwinden.

In der Schweiz bestehen noch keine gesicherten Statistiken bezüglich der Grösse der Plattformarbeit. Der Bericht des Bundesrates zu den Auswirkungen der Digitalisierung vom 8. November 2017 weist eine Kategorie der Selbstständigen, die für mehrere Arbeitgeber arbeiten, aus. In der Schweiz ist der Anteil dieser Selbstständigen bei rund 5 Prozent, was wenig ist, aber er ist um etwas mehr als einen Prozentpunkt gestiegen in den letzten Zehn Jahren. Plattformarbeit ist also noch ein Randphänomen.

Verdrängt Plattformarbeit bestehende Arbeitsplätze? Zu dieser Frage bestehen noch keine mir bekannten Untersuchungen für die Schweiz. Eine Reihe von Arbeiten untersuchen diese Frage für den Ridesharing-Markt, d.h. den Markt für Mitfahrdienste in den USA. Die meisten Anbieter von Mitfahr- oder Taxidiensten üben diese Tätigkeit als Zweittätigkeit aus. Die Fahrer sind nicht Umsteiger von normalen Taxidiensten. Diese Arbeit wird also zur Aufbesserung des Einkommens in Randstunden ausgeführt.

Flexible Sozialversicherungen sichern besser gegen Risiken ab

Eine wichtige Frage gilt der Absicherung der Fahrer. Ein Haushalt ist überhaupt nicht abgesichert, wenn seine Ausgaben gleich schwanken wie sein Hauptverdienst. Eine Studie von Dimitri Koustas, von der University of Chicago, vom 11. Januar 2018 zeigt auf, dass Fahrer, welche auf einer Plattform im Zweitverdienst beschäftigt sind, deutlich besser versichert sind gegen Einkommenschwankungen als Fahrer, die nicht auf einer Plattform aktiv sind. Die Ausgaben von Fahrern mit Zweitverdienst schwanken praktisch nicht mit dem Haupteinkommen, da sie über die Nebentätikeit kompensieren können, d.h. mehr fahren können.

Die Herausforderung in der Schweiz besteht im Bereich Sozialversicherungen. Selbstständige sind oft weniger gut abgesichert gegen Unfall und Armut im Alter. Selbständige können ihre Abdeckung frei wählen im Rahmen des Gesetzes. Angestellte haben diese Wahlmöglichkeiten nicht. Sie werden zu den vom Gesetzgeber festgelegten Ausmass durch den Arbeitgeber versichert. Der Grad der Absicherung ist also klar daran gekoppelt, ob jemand selbstständig oder angestellt tätig ist.

Ausreichende Absicherung ist ein wichtiges Ziel, auch für Anbieter von Plattformen. Diese möchten ihren Mitgliedern z.B. auch Versicherungen gegen gewisse soziale Risiken zu günstigeren Konditionen anbieten, als das ein Soloselbststädiger könnte. In der Schweiz werden solche Angebote durch den engen Gesetzesrahmen sehr stark beschränkt, oder gar verunmöglicht, da diese für Selbstständige nicht vorgesehen sind. In der Schweiz sind Arbeitsform und Grad der Versicherung strikt gekoppelt.

Der Bedarf nach Absicherung ist jedoch gerade da gross, wo flexibel gearbeitet wird. Die Einkommen von selbständig Erwerbstätigen schwanken und ein unversicherter Erwerbsausfall kann gravierende Folgen haben. Umgekehrt sind Angestellte vielleicht weniger auf volle Absicherung angewiesen, da ihre Arbeitsform sie schon sehr gut gegen Einkommensrisiken absichert.

Wir können Arbeitsform und Sozialversicherung entkoppeln. Ob wir angestellt sind, oder uns selbstständig ernähren, ist primär getrieben durch den Bedarf nach Flexibilität. Ob wir uns voll oder weniger absichern gegen Risiken hängt ab vom Bedarf nach Absicherung. Eine flexible Sozialversicherungen kann uns sowohl besser gegen Risiken absichern als auch dem flexiblen Arbeitsmarkt gerecht werden.

Im Apfelstrudel des Strukturwandels

Urs Birchler

Der Tagesanzeiger meldet, die Grossbäckerei mit dem phantasievollen Namen Groba AG müsse mehr als die Hälfte ihrer Stellen abbauen. Mein Gott! Dort war doch (vor bald einem halben Jahrhundert) mein erster Studentenjob! In einer Backstube am Zürcher Kreuzplatz fabrizierte Groba gefrorene Apfelstrudel für die Marke Findus. Die gewürfelten Äpfel kamen in grossen Büchsen. Dahinter stand irgendwie die Alkoholverwaltung, die verhindern wollte, dass die Äpfel verschnapst wurden.

Erinnern kann ich mich an den Chef und seine Frau, die gelegentlich mit dem grauen Pudeli zu Besuch kam, welches aber nicht an den Apfelstückli schnuppern durfte. Die Belegschaft bestand grösstenteils aus einer Gruppe Frauen, die jeweils in aller Herrgottsfrühe mit dem Minibus aus dem Thurgau herbeigefahren wurden für Fr. 3.50 die Stunde. Dazu die beiden Studenten: Ein Grieche, dessen Namen ich leider vergessen habe, und ich, beide für je Fr. 7.– die Stunde. Wir studierten beide Wirtschaft im selben Semester. Die in der Vorlesung mit einem Ohr vernommene Idee, dass Löhne etwas mit Produktivität zu tun hätten, kam uns in der Backstube nachhaltig abhanden. Die Thurgauerinnen berserkten den ganzen Tag und steckten mit blossen Händen gefrorene Strudel in die vorgefertigten Schachteln.

Was der Grieche und ich mit dem doppelten Lohn zum BIP beitrugen, ist mir nicht mehr in der notwendigen Schärfe erinnerlich. Auf dem mit Mehl eingestäubten Tisch, wo der Teig ausgewallt werden sollte, zeichneten wir jedenfalls mit dem Finger Grafiken zu den Aufgaben vom Proseminar am Vortag, Ich sehe noch deutlich, wie ich dem noch ahnungsloseren Kollegen erklärte, warum sich Indifferenzkurven nicht schneiden können (was sogar in den Zeiten der behavioral economics noch zu gelten scheint). Als uns der Chef ertappte, entliess er den Griechen. In einer Aufwallung von internationaler Arbeitersolidarität schleuderte ich ihm meine Kündigung auch gleich ins Gesicht.

Und jetzt baut die Groba AG wieder ab. Ironischerweise, weil der wichtigste Kunde von Frischbackwaren auf gefrorenes Zeug umstellt. Also auf das, was „wir“ damals herstellten. Wir Weitblickenden.

70 Franken süsses Gift

Monika Bütler

Das erste Mal in der 70 (!) jährigen Geschichte der AHV kommt eine vorgeschlagene Rentenverbesserung nur einer Gruppe von Rentnern und Rentnerinnen zu. Den Neurentnern. Das mag auf den ersten Blick unwichtig klingen, ist es aber nicht. Die Schweiz ist eines der ganz wenigen Länder mit einer universellen 1. Säule. Es gibt keine Spezialregelungen für Militärangehörige, die Polizei, Politikerinnen, Feuerwehrleute, oder Lehrerinnen: alle erhalten die AHV Rente nach dem genau gleichen Prinzip. Bisher mindestens.

Sollte es nach dem Willen des Ständerates gehen, ist damit bald Schluss. Die NeurentnerInnen sollen 70 Franken mehr pro Monat erhalten. Und dies obwohl die Massnahmen zur Sicherung der Alterssicherung für viele dieser Empfänger noch gar nicht gelten.

Ich habe es ehrlich gesagt nicht für möglich gehalten, dass eine solch ungerechte, primär aus abstimmungstaktischen Motiven entstandene Vorlage die Differenzbereinigung zwischen den Räten überleben würde. Auch wenn niemand wirklich an Argumenten interessiert zu sein scheint, hier nochmals die wichtigsten Punkte.

Die Ungleichbehandlung verletzt den Gleichbehandlungsgrundsatz der 1. Säule und öffnet so Tür und Tor für weitere Sonderbehandlungen in der Zukunft. Die Gleichbehandlung ist aber eine wichtige Komponente für den Zusammenhang der Versicherung. Weshalb nicht höhere Renten für Städter, weil dort das Leben so teuer ist. Oder für Landbewohner, weil diese auf ein Auto angewiesen sind.

Der Neurentenbonus ist ungerecht. Viele der heutigen Rentner hatten noch eine wenig ausgebaute berufliche Vorsorge. Obwohl sie aus der 2. Säule eine deutlich geringere Rente erhalten als viele künftige Rentner, kriegen Sie keinen Zustupf. Die Parlamentarier scheinen zudem nicht zu wissen – oder wollen einfach nicht wissen – dass ein Grossteil der in den letzten paar Jahren pensionierten Menschen bereits empfindliche Einbussen durch die Senkung des Umwandlungssatzes haben hinnehmen müssen. Auch diese Rentner erhalten keine Kompensation.

Die 70 Franken pro Monat haben eine miserable Zielgenauigkeit. Ein Grundsatz guter Sozialpolitik ist, dass die Massnahmen möglichst denjenigen zu Gute kommen, die sie am meisten benötigen. Nur ein Bruchteil der Kosten der 70 Franken (im Endausbau 2 Milliarden Franken pro Jahr) gehen an die armen Alten. Diejenigen, die gemäss heutigem Reglement EL beziehen können, nach den geplanten Rentenerhöhungen aber über der EL Berechtigungsgrenze liegen, verlieren sogar. Weil sie in diesem Fall mehr medizinische Leistungen aus der eigenen Tasche bezahlen müssen und weil auf den Renteneinkommen – im Gegensatz zur EL – Steuern entrichtet werden müssen.

Mit den 70 Franken begünstigt der Ständerat seine eigene Generation (zwischen 45 und 65, verheiratet). Es ist schon ein wenig störend, dass ausgerechnet die im Parlament am besten vertretene Bevölkerungsgruppe des Landes von der Massnahme am meisten profitiert: Finanziell gutgestellte (meist verheiratete) Babyboomers – Männer und Frauen, links und rechts. Die Erhöhung der Rente für Verheiratete gehört ins gleiche Kapitel. Auch die heutigen Jungen sollen die 70 Franken erhalten, heisst es jeweils. Doch bis die heutigen Jungen ins Rentenalter kommen, haben sie ein Vielfaches dieser 840 Franken pro Jahr bezahlen müssen.

Die mit den 70 Franken versüsste Unterstützung der Reform könnte nach hinten raus gehen. Dann nämlich, wenn die heutigen über 65 jährigen realisieren, dass sie vom Zuschlag nichts erhalten, die Kosten der Reform aber über eine höhere Mehrwertsteuer mitfinanzieren müssen. Bisher wurde das Ausbleiben des Zuschlags von 70 Franken an die Ü65 von den Befürwortern sehr schlank kommuniziert. Das könnte sich rächen. Immerhin ist sich die wissenschaftliche Literatur ziemlich einig: Ungleichbehandlungen werden nicht goutiert, selbst wenn den heutigen Rentner direkt nichts weggenommen wird.

Mit den Mehrkosten liessen sich deutlich vernünftigere Reformen finanzieren: Zum Beispiel eine Erhöhung der Mindestrente in der AHV. Ich habe zu wenig Angaben, um die 70 Franken für alle in eine Erhöhung der Mindestrente umzurechnen: Mindestens 140 Franken sind es mindestens, es dürften aber eher 200-300 Franken pro Monat sein. (PS: Es sind – vom BSV nachgerechnet – 450 Franken pro Monat!) Von einer Erhöhung der Mindestrente würden zudem diejenigen am meisten profitieren, die heute im Alter die höchste Armutsgefährdung aufweisen: Die alleinstehenden Männer und Frauen (deren Altersrente im Durchschnitt 17% tiefer ausfällt als die Altersrente der Witwen).

 

Altern ist (nicht) lustig

Monika Bütler

Der Beitrag erscheint unter dem selben Titel im HSG Focus 01/2017.

Das Knie knirscht, der Rücken schmerzt, die Falten werden tiefer. Mein Jüngster meinte vor einiger Zeit, dass ich von hinten eigentlich jung aussähe – von vorne hingegen…. Altern ist nicht lustig. Dennoch: Fast alle möchten alt werden, ein immer grösserer Teil der Bevölkerung schafft es auch. Noch vor 20 Jahren kannte man zwar bereits die wachsenden Finanzierungslücken der Alterssicherung, man wusste allerdings herzlich wenig darüber, wie es den älteren Menschen geht. Materiell, gesundheitlich, sozial, und vor allem darüber, wie all dies zusammenhängt. Ob healthy, wealthy and wise oder krank, arm und vergesslich, die optimale Alterspolitik hängt eben nicht nur von den Finanzen ab, sondern auch von den Bedürfnissen der Empfänger.

Ebenfalls erstaunlich: die riesigen Unterschiede zwischen Weiterlesen

Die verheiratete berufstätige Frau in der Schweiz

Monika Bütler

Heute habe ich bei der Aufbereitung der Publikationsgeschichte der Schweizerischen Zeitschrift für Volkswirtschaft und Statistik – mit 152 Erscheinungsjahren gehört sie immerhin weltweit zu den ältesten Fachzeitschriften der Volkswirtschaftslehre – eine wahre Trouvaille entdeckt.

In der 1949 Ausgabe der Zeitschrift verfasste Dr. Albert Koller, Direktor des Eidgenössischen Statistischen Amts von 1946 bis 1957, einen Aufsatz zur schwindenden Bedeutung der verheirateten Frau im schweizerischen Berufsleben. Aus der Sicht von Koller war dies eine „wichtige, wenn auch wenig beachtete soziale Errungenschaft des letzten halben Jahrhunderts“. Während um 1900 war noch ungefähr jede fünfte nichtledige Frau berufstätig war, so sank dieser Anteil bis ins Jahr 1941 auf einen Achtel. Ziemlich bemerkenswert, gab es doch damals noch keine (für Witwen wichtige) AHV.

Die Zahlen sind spannend – die Interpretation durch Herrn Koller ebenfalls. Es lassen sich wenig überraschende Aussagen finden wie „Bildet die Ausübung eines Berufes für den Mann die Voraussetzung fur die Gründung einer Familie, so bedeutet bei den Frauen die Heirat im allgemeinen den Abschluss der beruflichen Karriere“. Oder aber Versuche, die Daten zur Untermauerung von statistischen Hypothesen heranzuziehen.

So fragt sich der Autor zum Beispiel, ob der Geburtenrückgang (!) mit der Berufstätigkeit der Frauen zusammenhängen könnte. Seine Methode – der Berechnung der Korrelation der Kinderzahl einer Frau mit ihrem Arbeitsmarktstatus – erfüllt die Kriterien einer modernen Ursache-Wirkungskette allerdings nicht ganz.

Der Text schliesst mit einem frommen Wunsch: „Die familienstatistischen Ergebnisse weisen den Weg für die künftige Sozialpolitik zugunsten der verheirateten berufstätigen Frau. Das Ziel erblicken wir in einer weiteren Abnahme der Zahl jener Ehefrauen, denen es aus wirtschaftlichen Gründen nicht vergönnt ist, die ganze Arbeitskraft ihrem Haushalt und ihrer Familie zu widmen oder dann wenigstens in einer Erleichterung der beruflichen Pflichten dieser Frauen und Mütter.“

AHV Debatte: Unbescheidene Babyboomers und ihre sparsamen Eltern

Monika Bütler

Publiziert in der NZZ am Sonntag vom 4. September 2016 unter dem Titel „Wenn das Sparsäuli der Enkel die Rente sichert“

„Ja, ja“, sagte mein Vater jeweils. Im Klartext: Erzähl mir, was Du willst. Dabei glaubte ich alle Argumente auf meiner Seite: Seit der Einführung der AHV leben 65-Jährige acht Jahre länger. Den heutigen «Alten» geht es im Durchschnitt finanziell viel besser als früher; es geht ihnen im Mittel auch besser als dem Rest der Bevölkerung. Ihre Armutsquote ist geringer, ihr Vermögen deutlich höher.

Mein 81-jähriger Vater mochte es lange gar nicht, wenn von solchen Fakten nur schon die Rede war. Auch bei meinen Vorträgen zur schweizerischen Altersvorsorge spüre ich immer wieder, wie vor allem ältere Rentnerinnen und Rentner betupft, manchmal sogar ungehalten reagieren. Sie hätten schliesslich ihr Leben lang hart gearbeitet und auf vieles verzichtet.

Sind die Alten überempfindlich?  Nein, das sind sie nicht. Denn die nackten Zahlen zeigen nur die halbe Wahrheit. Natürlich haben die heutigen Rentner vom Ausbau und der Grosszügigkeit des schweizerischen Alterssicherungssystems profitiert. Doch, erstens, wäre es unfair, ihnen dies vorzuwerfen. Schliesslich haben sie sich die Erhöhung der AHV-Renten in den 70-er Jahren und den Ausbau der beruflichen Vorsorge nicht einfach selber zugeschanzt. Alle Altersgruppen und alle Parteien – auch bürgerliche – trugen den Ausbau mit. Warnungen über drohende finanzielle Ungleichgewichte – die SNB schrieb bereits 1957 von einer «zunehmenden Überalterung» – wurden angesichts guter kurzfristiger Umlage-Ergebnisse in den Wind geschlagen.

Zudem waren, zweitens, die guten Zeiten nicht immer so gut wie es scheint. Die Mehrheit der älteren Rentner kam zwar in der Pensionskasse noch in den Genuss eines Umwandlungssatzes von 7,2 Prozent, ihr Kapital wurde mit 4 Prozent verzinst. Dies allerdings auch zu Zeiten mit über 5 Prozent Inflation. Wenn heute bei einer negativen Jahresteuerung die Pensionskassenvermögen mit 1.25 % verzinst werden müssen, sind die realen Erträge höher als früher. Ob die Alten unter dem Strich wirklich besser gefahren sind als die Mittelaltrigen, ist zumindest zweifelhaft.

Und drittens geht vergessen, dass ältere Rentner oft nicht nur für eine beträchtliche Anzahl künftiger Beitragszahler sorgen mussten, sondern auch für ihre bedürftigen Eltern oder behinderten Geschwister. Dass viele ältere Menschen einen rechten Batzen auf der Seite haben, ist daher nicht nur Glück. Sie waren sich gewohnt, sparsam zu leben. Sie verzichteten selbst dann auf vieles, als die Kinder ausgezogen und die Eltern verstorben waren und kamen erst so zu Vermögen.

Vom angesparten Vermögen der älteren Generation profitieren ironischerweise diejenigen, die in ihrem Leben viel weniger Unterstützungsleistungen stemmen mussten und sich ein komfortableres und freieres Leben leisten konnten. Meine eigene Generation nämlich, die gebärgeizigen Babyboomers. Wenn jetzt gerade diese Generation für sich Kompensationsmassnahmen oder Rentenerhöhungen verlangt, scheint mir dies, mit Verlaub, etwas unbescheiden.

Die lauten Diskussionen um die Alterssicherung haben meinen Vater doch noch aus der Reserve gelockt. Klar, er sei mit der Rente gut gefahren, meinte er kürzlich. Und die weniger gut gestellten Kollegen in seinem Umfeld seien dankbar über die Ergänzungsleistungen. Aber was sich heute abzeichnet, hätte seine Generation nie gewollt: Dass man Gelder verteilen möchte, sogar an Wohlhabende, die aus der Tasche der Jungen stammten. Es könne doch nicht sein, dass die Grosseltern den Enkeln statt einen Batzen ins Sparsäuli zu legen, sich aus diesem bedienen.

Das BGE und die Arbeitsproduktivität

Monika Bütler

Für einmal bin ich sogar mit den Initianten des bedingungslosen Grundeinkommens einverstanden BGE. In einem Grundlagenpapier, von der NZZ als Ökonomie des Schlaraffenlands dargestellt, gehen die Verfasser der Studie von einer Steigerung der Arbeitsproduktivität um 5% aus. Das sieht nach viel aus, ist es aber nicht. Die Arbeitsproduktivität der Schweiz wäre selbst mit einer Erhöhung um 5% noch tiefer als diejenige von Frankreich (was die OECD ja ständig lehrmeistert). Eine Steigerung der Arbeitsproduktivität durch ein BGE scheint mir daher durchaus plausibel.

NUR: Der Grund einer höheren Arbeitsproduktivität wäre ein gaaaanz anderer. Die von den Autoren erwähnten positiven Effekte einer besseren Ausbildung würden sich erst viele Jahre nach einer Einführung bemerkbar machen – falls überhaupt. Vielleicht arbeiten die Menschen tatsächlich motivierter – mindestens diejenigen, die dann noch eine Beschäftigung haben. Denn genau da liegt der springende Punkt: Denn mit einem BGE bleiben im Arbeitsmarkt mit grosser Wahrscheinlichkeit diejenigen mit einer gut bezahlten und interessanten Arbeit. Also die Produktiveren.

Anders gesagt, wenn die Schweiz ihren weniger produktiven Bürger mit dem BGE einen Anreiz gibt, aus dem Arbeitsmarkt auszusteigen, steigert sie ganz automatisch ihre Arbeitsproduktivität. Für die noch arbeitende Durchschnittsbürgerin hiesse dies ein tieferes verfügbares Einkommen, weil sie über ihre Steuern deutlich mehr Transfers zu berappen hätte. Die höheren Steuern machen dann die Arbeit für weitere Menschen unattraktiv.

Die wirklich heroische Annahme der Studie liegt allerdings darin, dass eine höhere Arbeitsproduktivität mit einem höheren Volkseinkommen gleichgesetzt wird. Dies geht wirklich nur, wenn ALLE im gleichen Ausmass weiterarbeiten würden.wie bisher. Was selbst die Befürworter des BGE nicht glauben. Woher dann die Zeit für die Weiterbildung und die Pflege der Familienmitglieder kommen sollte, bleibt das Geheimnis der Autoren. Auch weshalb in einem solchen Land die stressbedingten Ausfälle abnehmen würden.

Vielleicht wollten uns die Autoren der Studie nur wieder einmal in Erinnerung rufen, welch untauchliches Konzept die Arbeitsproduktiviät darstellt. Auch da wären wir uns einig, wie ich in einer meiner ersten NZZaS Kolumnen ausgeführt habe.

BGE: eine attraktiv erscheinende, aber nicht realisierbare Utopie

von Gebhard Kirchgässner

Das BGE ist eine attraktiv erscheinende, aber nicht realisierbare Utopie

  • Das Konzept des Grundeinkommens bietet ohne Frage viele Vorteile.
  • Wieso soll ein Arbeitsverweigerer Anspruch auf staatliche Unterstützung haben?
  • Ein bedingungsloses existenzsicherndes Grundeinkommen wäre nicht finanzierbar.

Das Prinzip des bedingungslosen Grundeinkommens (BGE) ist einfach: Jede Bürgerin und jeder Bürger erhält pro Monat einen festen Betrag vom Staat. Dieser Betrag ist unabhängig von der jeweiligen wirtschaftlichen Lage des Bürgers und gesetzlich festgelegt. Der Staat muss dieses Geld aber über die Steuern wieder zurückholen, indem er beispielsweise das Einkommen besteuert. Das staatlich finanzierte Grundeinkommen würde mit dem eigentlichen Einkommen verrechnet. Bis zu einer gewissen Einkommensgrenze erhielte man somit netto Einkommen vom Staat, danach, wenn die zu zahlende Steuer höher als das Grundeinkommen ist, müsste man dem Staat etwas abgeben. Man spricht daher auch von der „negativen Einkommensteuer“.

Dieses Konzept hat drei Vorteile:

(i)      Es soll Arbeitsanreize schaffen. Sobald ein Sozialhilfeempfänger im traditionellen System unseres Sozialstaats Arbeit aufnimmt, werden die staatlichen Leistungen in erheblichem Umfang gekürzt, sodass er netto kaum mehr, unter Umständen sogar weniger Einkommen zur Verfügung hat, als wenn er nicht arbeiten würde. Unter diesen Bedingungen hat er kaum Anreiz, eine Beschäftigung aufzunehmen.

(ii)     Es soll das Sozialhilfesystem vereinfachen. Da Sozialleistungen wegfallen, müssen sie auch nicht mehr beantragt und verwaltet werden; die Sozialbürokratie könnte stark verringert werden.

(iii)    Es soll den Armen mehr Würde verschaffen. Heute müssen sie gegenüber dem Sozialamt nachweisen, dass sie bedürftig sind. Das muss zwar nicht, kann aber entwürdigend sein.

Befürworter, wie beispielsweise der holländische Philosoph Phillipe van Parijs, führen zusätzlich ins Feld, dass erst ein bedingungsloses Grundeinkommen wirkliche Freiheit und Selbstverwirklichung gewährleiste. Er vertritt die Auffassung, dass man nur so eine freie Wahl zwischen Arbeit und (Selbstverwirklichung in der) Freizeit hätte. Bei allen diesen Vorzügen wundert es nicht, dass dieses Konzept viele Befürworter findet.

Aber das BGE hat auch gewichtige Nachteile: Der wichtigste ist, dass es zumindest dann nicht finanzierbar ist, wenn es existenzsichernd sein soll. Setzt man das Existenzminimum auch nur bei 40 Prozent des Durchschnittseinkommens an und verteilt deshalb 40 Prozent des Sozialprodukts pro Kopf gleichmäßig an alle Bürgerinnen und Bürger, müsste man dieses Geld sofort wieder durch Steuern einziehen. Dies würde Grenzsteuersätze über 60 Prozent erfordern, d.h. von jedem zusätzlich zum Grundeinkommen verdienten Franken müsste man 60 Rappen an den Staat abliefern.

Damit wäre noch keine einzige Schule und keine Straße unterhalten, es gäbe kein Gerichtswesen und keine Polizei. Will man auf diese Einrichtungen nicht verzichten, lägen die Grenzbelastungssätze vermutlich eher 80 Rappen je zusätzlich verdienten Franken abliefern. Unter diesen Bedingungen wäre kaum ein positiver Beschäftigungseffekt zu erwarten. Vielmehr gäbe es starke Anreize, nicht mehr zu arbeiten und sich mit dem vom Staat erhaltenen Geld ein einfaches, aber nicht unattraktives Leben zu ermöglichen. Ist das bedingungslose Einkommen nicht existenzsichernd, mag es zwar finanzierbar sein, aber die oben genannten positiven Aspekte entfallen.

Nicht mehr als eine faszinierende Idee

Schliesslich stellt sich auch die Frage, mit welchem Recht jemand, der nicht arbeiten will, einen Anspruch auf staatliche Unterstützung erheben kann. Der amerikanische Philosoph John Rawls hat van Parijs widersprochen: Zwar hat jeder, der aus objektiven Gründen nicht arbeiten kann, Anspruch auf Unterstützung durch die Gemeinschaft. Wer aber arbeitsfähig ist und eine ihm angebotene Arbeit ablehnt, kann keinen Anspruch darauf erheben, dass die anderen Mitglieder der Gesellschaft seinen Lebensunterhalt finanzieren. Dem ist nichts hinzuzufügen.

Insofern bleibt das bedingungslose Grundeinkommen zwar eine faszinierende Idee, aber da sie nicht finanzierbar ist, bleibt sie leider im Bereich der Utopie. Das gilt für die Schweiz ebenso wie für Deutschland.

Dieser Beitrag ist zuerst bei XING erschienen:

Lauter Strafen in der AHV

Monika Bütler

Publiziert in der NZZ am Sonntag vom 22. Februar unter dem Titel „Das ständige Gefühl zu kurz zu kommen“.

Auf den ersten Blick scheint alles klar. Ein Paar in „wilder Ehe“, wie es früher so schön hiess, bekommt oft mehr Altersrente als ein verheiratetes Paar – dies bei gleichen Beiträgen. Weiterlesen