Sprachvergifterin NZZ

Urs Birchler

Was ist nur bei der NZZ los? Konkret: Im Feuilleton. Jetzt hat es anscheinend auch die Sprache (genauer: das Denken) erwischt. Man versuche, den Beitrag von Feuilleton-Chef René Scheu in der Ausgabe von gestern zu lesen. Ich sage: „versuche“, denn der Beitrag ist weithin kaum verständlich und dort, wo er verständlich ist, als NZZ-Artikel beängstigend.

Schon der Titel verrät die Haltung: „Die Barbaren, sie lauern überall“. Die Andersdenkenden sind Barbaren. Ein Trick, so alt, er gehörte ins Uno-Unkulturerbe. (Fussnote: Den Titel setzt meist nicht der Autor, sondern der Redaktor. Dies macht die Sache aber nur noch schlimmer; die Barbarisierung der Gegenseite hat sich offenbar schon in die Kultur der NZZ eingefressen.)

Im Untertitel verpflichtet sich Herr Scheu zwar der Aufklärung: „Wie Progressive das Erbe der Aufklärung verspielen.“ Aufklärerisch, im Sinne von erhellend, ist der Text dann eben gerade nicht. Eher verdunkelnd. Der Autor versteht partout nicht, dass sich eine Feministin für ein Recht auf Vollverschleierung „starkmachen“ (warum nicht einfach: „sich einsetzen“?) kann. Ist Toleranz nicht eine akzeptable — oder gar die einzig konsequente — Form von Liberalismus? Darauf folgt eine Irrfahrt durch verworrene Bruchstücke soziologischer Literatur mit (unklarer) Unterscheidung zwischen „rassistischem Antirassismus“ und „antirassistischem Rassismus“. Darauf aufgepfropft dann des Autors wahre Botschaft: Die Verunglimpfung der „Progressiven“, der „selbsternannten Träger von Toleranz und Offenheit“. Diese müssen sich „von ihrem Überlegenheitsgefühl verabschieden“. (Sagt ein Autor, der für die Aussage „Sartres Denkfehler liegt auf der Hand“ nicht zu scheu ist.) Die „Progressiven“, so lesen wir, sind eben nicht fähig, die „eigene Identität zu transzendieren“ (Hiiiilfe!).

Im Gegenzug transzendieren wir hier die eigene Identität von batz.ch als Wirtschaftsblog. Da Wirtschaft etwas mit Freiheit zu tun hat. Und Freiheit etwas mit Sprache. Und weil (aufklärerische) Sprache da ist, um zu klären, nicht um zu verunglimpfen und aufzuhetzen.

Aufhetzen? Sicher. Der Titel heisst nicht einfach „Überall Barbaren!“. Ein solcher Seufzer wäre mir an einem Mittelmeerstrand wohl auch schon entfahren. Er lautet: „Die Barbaren, sie lauern überall“. Mit der (französischen) Repetition des Subjekts wird dieses im Deutschen betont, der Titel zum Warnschrei. Sie sind nicht nur überall, sie lauern auch noch! Die Barbaren. Das heisst, die (in guter Absicht) anders Denkenden.

6 thoughts on “Sprachvergifterin NZZ

  1. „Warum wollen so viele Frauen ein Opfer sein?“ musste ich vorgestern im selben Blatt lesen. Der Artikel beginnt mit dem Satz: „Was ich an der Weinstein-Debatte nicht verstehe, ist, warum so viele Frauen unbedingt auch noch als Opfer anerkannt werden wollen.“

    Vor fünf Jahren hätte es für Aufsehen gesorgt, wenn sich ein Autor in der NZZ darüber wundert, weshalb Frauen, die am Arbeitsplatz sexuell belästigt werden,
    tatsächlich auf die Idee kommen, sich zu beschweren – und dies auch noch öffentlich.
    Heute fällt das kaum mehr auf. Das ist nur ein Beispiel, das den Weg aufzeigt, den die Eigentümer der Zeitung seit einigen Jahren gehen:

    Weg mit dem weltoffenen Stil von Spillmann, weniger Debatte und Vielfalt, dafür her mit konservativen Werten, Tradition und Nation – der Liberalismus beschränkt sich auf Wirtschaftsthemen. Sprich – der bürgerliche Schulterschluss zwischen SVP und FDP floriert.

    Wie naiv waren wir alle, die gejubelt haben, als die Redaktion 2014 die Einsetzung von Blocher-Statthalter Somm verhindert und dies mit einem Leitartikel untermauert hat (https://www.nzz.ch/nzzas/nzz-am-sonntag/einen-freisinn-blocherscher-praegung-gibt-es-nicht-1.18444215). Die Besitzer sind dieselben und ziehen ihren Plan mit oder ohne Somm durch.

  2. Danke. Habe diesen Text ebenfalls zu lesen versucht, und hinten und vorne nicht verstanden. Habe es dann meinem beschränkten Intellekt angekreidet, bin nun etwas erleichtert.

  3. Der Text ist sehr gut lesbar und verstehbar, jedenfalls unterscheidet er sich im Sprachniveau und in den Bezügen zu Werken verschiedener Autoren nicht von vielen anderen, die NICHT mit dem Unverständlichkeitsvorwurf bedacht werden. Die Überschrift passt nicht zum Inhalt, die ist vermutlich zwecks Klickbait gesetzt worden.

    Wer sich heute in diversen linken Kreisen bewegt, wird mit großer Wahrscheinlichkeit mit dem konfrontiert, was René Scheu (nicht „die NZZ“) kritisiert: fortwährend geht es darum, wer etwas sagt, nicht WAS gesagt wird. Gefühlige Betroffenheiten reklamieren „Definitionsmacht“, was am Ende auf reine Willkür hinaus läuft. Die Diskussion um allgemein gültige Maßstäbe wird verweigert. Menschen werden nach ihrer Hautfarbe, Herkunft, Geschlecht bzw. nach Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Minderheiten auseinander sortiert, witzigerweise oft von weißen Akademiker/innen, die schon auch mal den „POC“ ansagen, was sie zu denken hätten. Wer redet, ist gefordert, sich zunächst zu „positionieren“, denn schließlich ist das WER neuerdings ein unverzichtbares Kriterium von Wahrheit und Relevanz.

    „Andere Kultur“ ist ein oberster Wert, jegliche Suche nach verbindenden, universalistischen Werten genügenden Kriterien für die Beurteilung von Handlungen findet nicht mehr statt bzw. wird abgelehnt. Oft kommt auch der „weiße alte Mann“ als Hassgegner schlechthin vor, „gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ wird zwar abgelehnt, aber so doch auch selbst praktiziert.

  4. Sehr treffender Artikel, der ein im NZZ-Feuilleton immer mehr um sich greifendes Problem benennt: „Progressive“ oder „Progressivism“ ist eigentlich eine historisch sehr gut eingrenzbare, auf vielen Gebieten aktive Reformbewegung in den USA 1890-1920 (vgl. z.B. Walter Nugent, Progressivism. A Very Short Introduction, Oxford U.P. 2010). Der „(Ober-)Hochleistungssportler des Geistes“ – so bezeichnen sich diese Feuilletonisten neuerdings selbst – weiss das wohl kaum: seine „Progressiven“ dienen in erster Linie als möglichst schwammiger, und damit breit applizierbarer Kampfbegriff, und mit dem wird dann verbal herumgeturnt (um in der Metapher zu bleiben). Leserbriefe zu solch gravierenden Fehlentwicklungen werden nicht abgedruckt: kürzlich hatte ich einen zu einem ähnlich schwammigen Kampfbegriff („Linksliberale“) und der Stilisierung von Carl Schmitt als Musterdemokraten eingereicht. René Scheu wollte das in einen Mail-Dialog mit dem Autor umbiegen.

  5. «Der Autor versteht partout nicht, dass sich eine Feministin für ein Recht auf Vollverschleierung „starkmachen“ (warum nicht einfach: „sich einsetzen“?) kann. Ist Toleranz nicht eine akzeptable — oder gar die einzig konsequente — Form von Liberalismus?»

    Nein. Die einzig konsequente Form von Liberalismus ist diejenige, die das Individuum und dessen individuelle Freiheit ins Zentrum rückt und auch verteidigt.
    An einer Vollverschleierung (und dem Einsatz dafür) ist so ziemlich gar nichts liberal. Burka/Niqab sind das Symbol einer geschlechtsspezifischen Diskriminierung und Unterdrückung.
    Überzeugte Liberale sollten damit ein Problem haben. Und hier trifft Scheu sehr wohl einen wunden Punkt. Viele Vertreter des «links-liberalen» Spektrums sind diesbezüglich – die moralische Autorität für sich beanspruchend – auf einem Auge blind. Oft besteht mehr als nur die Tendenz, das Kollektiv über das Individuum zu stellen. Unter dem Banner eines verabsolutierten Multikulturalismus und der Religionsfreiheit werden solche Verletzungen der Menschenrechte verteidigt. Da braucht es Aufklärung im Sinne von solchen Artikeln.
    (Ob ein «Burka-Verbot» wirklich angebracht und auch zielführend wäre, ist dann natürlich wieder eine andere Frage.)

  6. Danke, Herr Prof. Bütler, sehr gut. In der heutigen NZZ doppelt Dieter Thomä nach in Ihrem (und meinem) Sinn, kompetent und sehr sachkundig. quo vadis nzz?

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