Barbezug des Vorsorgekapitals verbieten? Es gibt liberalere und gerechtere Lösungen

Monika Bütler

Was passiert in der Schweiz, wenn ein Problem auftaucht? Die eine Seite schlägt eine neue Regulierung vor. Immer. Die andere Seite reagiert ebenfalls immer gleich: Statt sich für eine vernünftigere Lösung einzusetzen, streitet sie das Problem einfach ab. Heutiges Beispiel: der Kapitalbezug in der zweiten Säule. Der Beitrag erschien am 17. April 2016 (in leicht veränderter Version) unter dem Titel „Der Bezug der Vorsorgekapitals ist ein Problem – für die andern“ in der NZZ am Sonntag.

Bundesrat Berset warnt: Der Bezug des in der beruflichen Vorsorge angesparten Kapitals in bar (statt in Form einer lebenslangen Rente) kostet später Ergänzungsleistungen (EL). Der Kapitalbezug erhöht sowohl die Wahrscheinlichkeit als auch die erwartete Höhe späterer Ergänzungsleistungen (EL). Worauf die Forschung übrigens schon seit Jahren hinweist (auch im batz.ch: siehe hier und hier)

Das schweizerische Sozialversicherungssystem hat starke Anreize für einen Kapitalbezug. Das durch die Ergänzungsleistungen garantierte Einkommen liegt rund 1000 Franken pro Monat höher als die AHV-Maximalrente. Wer eine relativ kleine Rente aus der Pensionskasse und kein Privatvermögen hat, fährt mit dem Barbezug fast immer besser. Oft auf Kosten der Steuerzahler.

Die Pflegekosten seien der Hauptgrund der stark steigenden Ausgaben der EL, nicht der Kapitalbezug. Mag sein. Gerade weil die Pflege wichtig ist, sollten die EL nicht noch durch Kapitalbezüge belastet werden. Rentenbezüger, die sich ihre ganze Rente anrechnen lassen müssen, sind mit Sicherheit billiger für den Staat als Kapitalbezüger.

Kapitalbezug mindestens teilweise verbieten! rufen deshalb die einen. Ein unnötiger Eingriff in die persönliche Entscheidungsfreiheit! protestieren die andern. Tatsächlich: Ein Verbot benachteiligt Kleinverdiener und gesundheitlich beeinträchtigte Menschen mit einer tieferen Lebenserwartung. Wer möchte es einer kranken Frau vergönnen, die wenigen verbleibenden Jahre mit ihrem selber angesparten Vermögen zu versüssen. Und soll der alleinstehende Arbeiter die Professorin zwangsweise subventionieren?

Also nichts machen? Doch. Es gibt liberalere Ansätze als ein Verbot. Sich die Pensionskassengelder in bar auszahlen zu lassen, lohnt sich nämlich auch aus zwei weiteren Gründen. Erstens ist Kapitalbezug ist gegenüber der Rente steuerlich privilegiert. Die bar ausbezahlte Vorsorge wird separat von anderen Einkommen und erst noch meistens zu einem viel tieferen Satz besteuert.

Zweitens ist die bar ausbezahlte Vorsorge bei einer späteren Pflegebedürftigkeit teilweise geschützt. Ein Alleinstehender hat eine Vermögensgrenze von 37‘500 Franken; nur was darüber liegt wird teilweise als verfügbar angerechnet. Die Rente hingegen wird zu 100% an die Pflegekosten angerechnet.

Eigenartig, wenn der Staat mit der einen Hand eine Wahlmöglichkeit einschränken will, während er mit der anderen Hand die gleiche Option steuerlich und EL-technisch massiv begünstigt. Eine Angleichung des Steuersatzes für Rente und Kapitalbezug sowie eine tiefere Vermögensgrenze würden nicht nur die Kosten späterer EL direkt reduzieren. Die Massnahmen würden wohl den einen oder anderen doch noch zur Rente bewegen.

Natürlich ist es hart, fast das Vermögen ganz aufgeben zu müssen, bevor man EL-berechtigt ist. Aber erstens ist es nicht die Aufgabe des Staates, die Erben auf Kosten der Steuerzahler zu schützen. Zweitens begünstigt das heutige System die Schlauen. Weniger gut informierte Pflegebedürftige brauchen oft ihre ganzen Ersparnisse auf, bevor sie überhaupt an EL denken. Bei den Glücklichen sorgt der juristisch gut ausgebildete Nachwuchs dafür, dass EL so früh wie möglich beantragt werden. Gerechter wäre die Gleichbehandlung von Rente und Kapital allemal.

Statt den Zusammenhang zwischen Kapitalbezug und EL einfach abzustreiten, würden sich die Gegner eines Verbots des Barbezugs besser für eine freiheitliche Lösung einsetzen. Eine Lösung, die auch dann effizient wäre, wenn die Barauszahlung entgegen der wissenschaftlichen Erwartungen die EL gar nicht belastete.

5 thoughts on “Barbezug des Vorsorgekapitals verbieten? Es gibt liberalere und gerechtere Lösungen

  1. Sehr geehrte Frau Büttler.
    Vielen Dank für Ihren Standpunkt. Darin liegt viel Wahres, einiges ist aber m.E. nicht ganz zu Ende gedacht:
    Benachteiligung gesundheitlich beeinträchtigter Menschen: Diese sind tatsächlich heute schon benachteiligt. Bezieht ein Versicherter eine (ganze oder meist sogar Teil-) Invalidenrente aus der Pensionskasse ist gemäss den Reglementen der meisten Kassen ein Kapitalbezug bei Pensionierung ausgeschlossen, d.h. für diese Personen gilt das „Verbot eines Kapitalbezugs“ schon heute.
    Hingegen: bei Kleinverdienern macht es wirtschaftlichen Gründen meist wenig Sinn, Kapital statt Rente zu beziehen. Die steuerlichen Vorteile sind – wenigstens in den Kantonen mit progressiven, d.h. verfassungsgemässen Steuertarifen – minimal. Die Motivation ist also dort vielfach darin zu suchen, kurzfristig zu (viel) Geld zu kommen, das zu verprassen und sich danach vertrauensvoll an den Staat zu wenden. Aus dieser Optik liegt der Fehler im System nicht am Kapitalbezug selbst sondern an der Motivation dazu. Das mag nun politisch furchtbar unkorrekt erscheinen, ist aber leider vielfach – sei es aus Unwissenheit oder Kalkül – so.
    Besteuerung der Kapitalauszahlung: Richtig; sie wird zu viel tieferen Sätzen als das Einkommen besteuert (z.B. beim Bund zu einem fünftel des Tarifs für „normales Einkommen“). Danach wird das Kapital als Vermögen und die Erträge daraus als Einkommen besteuert. Vielfach führt das tatsächlich zu einer tieferen Steuerbelastung … Fortsetzung folgt.

  2. … als der Rentenbezug. Würde aber der Kapitalbezug gleich besteuert wie die Rente, kehrte sich dies um bzw. müsste – zur Gleichbehandlung – auf die Besteuerung des erfolgten Kapitalbezugs als Vermögen und der Erträge daraus als steuerbares Einkommen verzichtet werden.
    Anrechnung des Vermögens: Bei der Berechnung der Ergänzungsleistungen herrscht kantonaler Wildwuchs. Einige Kantone rechnen 10% des den Freibetrag übersteigenden Vermögens als „virtuelle Einnahme“ an, andere 20%. Bezieht also jemand im Kanton Zürich z.B. ein Kapital von CHF 500’000, bezahlt er zuerst (Stadt Zürich, verheiratet, reformiert) 8.57% Kapitalleistungssteuern. Es bleiben also CHF 457’170. Wird er kurz nach der Pension zum Pflegefall, -> CHF 457’170 – 37’500 Freibetrag = CHF 419’670, davon 20% = CHF 83’934 anrechenbares Einkommen (das er gar nicht hat). Die Rente würde ihm zum Umwandlungssatz, also bei z.B. 6% zu CHF 30’000 angerechnet. Ihre Argumentation geht also nicht in allen Fällen auf.
    Freundliche Grüsse, Ihr Finanzplaner

  3. Wenn es um liberale Lösungsvorschläge geht, reizt es mich immer, mich in die Diskussion einzumischen.

    Anscheinend besteht das Problem darin, dass sich Leute, welche entweder die Risiken falsch einschätzen oder bewusst das System ausreizen wollen, zum Moral Hazard werden.

    Das Fällen einer Entscheidung soll immer auch mit dem Tragen der Konsequenzen daraus verküpft werden. Hier ist es die Entscheidung „Rente oder Kapitalbezug“ verbunden mit der befürchteten Folge, dass im Fall von Kapitalbezug die Allgemeinheit ansatt der Entscheidende selber stärker für die allenfalls negativen Konsequenzen aus dem Entscheid herangezogen wird.

    Setzen wir doch also gleich bei diesem Punkt an: Wer sich aktiv* für Kapitalbezug seines PK-Guthabens entscheidet, verwirkt sich das Recht, dereinst bei Bedarf AHV Ergänzungsleistungen beantragen zu können. Damit fiele der Anreiz weg, sich bewusst als „moralischer Hazardeur“ aufzuführen. Es bräuchte keine steuerlichen oder strukturellen Anpassungen, alles könnte bleiben wie bisher und das Problem wäre subito im Griff. (Achtung Widerstand: PKs wollen angesichts ihrer Renditeprobleme den Kapitalbezug forcieren…!)

    *aktiv heisst „nicht erzwungenermassen“. Z.B. gilt ein Ausgesteuerter, der seine PK Guthaben auf seinem Freizügigkeitskonto hat, nicht als „aktiver Kapitalbezüger“. Für jemanden, der einen Teil seines PK-Guthabens als Kapital bezieht und einen Teil als Rente, sind zweckdienliche Fein-Regelungen allenfalls denkbar, aber nicht zwingend.

  4. Also, das ganze System ist so kompliziert geworden, dass sich nur wenige damit auskennen!
    Aus meiner Sicht wäre es doch einfach – 2. Säule fürs Dach über dem Kopf, 1. Säule für den Alltag und seine Kosten und die 3. Säule für den Luxus.
    Ertrag & Gewinne aus Verkauf von Wohneigentum, das selber bewohnt wird, zwangsweise zurück in ein 2. Säulenkonto bis zur nächsten Investition in ein solches. Dann allerdings müsste der schwachsinnige Eigenmietwert endlich beerdigt werden.

    Und was machen wir heute? Um den Negaitvzinsen der SNB auszuweichen wird im Wohnungsbau durch die cleveren Pensionskassen und Versicherer munter auf Halde produziert, obwohl die Masseneinwanderunginitiative keine Zuwanderung wünscht. Und da verstehe einer doch die Aussage, dass Private zu doof wären, selbst für Ihr Dach über dem Kopf zu investieren – nota bene mit Mitteln der erw. 2. Säule. Der Leser/in mache sich selber ein Bild!

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