Gaat oi nüüt aa

Monika Bütler

Mit etwas Verspätung hier meine letzte NZZ am Sonntag Kolumne, publiziert am 14. Juli 2013 unter dem Titel: „Die Privatsache der andern geht uns nichts an: Es geht uns allen am besten, wenn wir uns nicht gegenseitig unsere Freiheit beschneiden.“

Unser Jüngster, durchaus kommunikativ und umgänglich, wird einsilbig wenn er uns etwas über die Schule erzählen soll: „Das gaat oi nüüt aa!“, heisst es dann. Lange vor Edward Snowdens Enthüllungen verbat er sich jede Form von Überwachung. Wer seinen Schulthek auch nur von weitem ansieht, kriegt Ärger. Erzählt er sporadisch doch etwas, dann eher über eine zweckentfremdete Schere im Werken (zum gegenseitig Haare schneiden) als über den Mathetest.

Solange Reklamationen der Schule ausbleiben und seine Noten ungefähr seinem Potential entsprechen, lassen wir unseren Junior in Ruhe. Leistungsauftrag heisst das heute. Dass er dieselbe Informationspolitik – geht Euch nichts an – auch in seinen Aufsätzen zum Thema „Mein Wochenende“ verfolgt, geht uns dann nichts mehr an.

Des Buben Sinn für Nichteinmischung mag etwas ausgeprägt sein, er ist uns aber allen angeboren. Jugendliche wehren sich für mehr Freiräume, gegen die Bevormundung der Eltern, die Einmischung und Überwachung durch Schule und Staat. Sogar die Ökonomen – sonst über vieles uneinig – sind für einmal einer Meinung: Es geht uns allen am besten, wenn der Staat sich nur dann einmischt, wenn dritte – Kinder, die Umwelt, die Steuerzahler – sonst wehrlos zu Schaden kommen. Vorschriften, die in private Abmachungen eingreifen sind im besten Fall unnütz, meistens schädlich und immer teuer.

Schade nur, dass uns dieser Freiheitssinn so schnell abhanden kommt wenn es um andere geht. Die Freiheit der andern ist zwar OK, nur nicht grad im konkreten Fall – bei der Höhe der Fenstersims, in der Buchhaltung der Firma, bei der Zulassung des Kinderbetreuers. Über Politiker und Bürokraten zu schimpfen, greift allerdings zu kurz. Die Vorschläge zur Beschränkung der Löhne, zum Beispiel die 1:12-Initiative, stammen aus der Basis. Genau genommen aus Kreisen, die Freiraum für sich selber lautstark fordern. „Binz bleibt!“ hiess es bis vor kurzem in unserer Nachbarschaft. Den Unternehmen wird ihre legale Binz jedoch aberkannt obwohl wir alle davon profitieren. So ärgerlich sie sind, überrissene Löhne sind Privatsache, solange sie nicht über Steuern teilweise mitfinanziert werden. Beispielsweise in Firmen und Branchen, die direkt oder indirekt vom Staat unterstützt werden. Man wünschte sich, die Jusos würden mit derselben Verve für eine bessere (Finanzmarkt-)Regulierung kämpfen. Eine, die wirklich verhindert, dass sich eine Minderheit auf Kosten der Allgemeinheit Vorteile verschafft.

Die Freiheit der andern ist immer ein Problem. So verschwindet scheibchenweise die Freiheit aller. Widerstand gegen Eingriffe in private Entscheidungen regt sich nicht einmal mehr, wenn eine vorgeschlagene Massnahme direkt fast jeden trifft und niemandem wirklich nützt. So ist die von Bundesrat Berset vorgeschlagene Erhöhung des Mindestrentenalters im BVG von 58 auf 62 Jahre eine starke Einmischung in eine im Grunde rein private Abmachung zwischen Firma/Pensionskasse und den Angestellten. Verliert eine 59-jährige ihre Arbeit, wird sie nur schwer eine neue Stelle finden. Statt der Person einen grösstenteils selbstfinanzierten Rücktritt in Würde zu ermöglichen, generiert die Vorschrift eine individuelle Tragödie, verbunden mit sehr viel höheren Kosten für die Allgemeinheit. Ohne die Möglichkeit zur Frühpensionierung bleiben der Entlassenen nur die IV (wenn sie Glück hat) oder – unter Verlust eines Teils der Versicherungsleistung – ALV und später Sozialhilfe.

Viele Eingriffe in private Entscheidungen mögen für sich alleine genommen klein sein. Zusammen sind sie nicht mehr harmlos. Und mit jeder neuen Einschränkung wächst gerade bei Firmen die Angst, dass in der Zukunft noch mehr kommt. Umso erstaunlicher, wie leichtfertig wir anderen und letztlich gemeinsam uns selber den Ast der Freiheit absägen. Hätten wir doch öfter den Mut wie unser Bengel zu sagen: Das gaat oi nüüt aa!

4 thoughts on “Gaat oi nüüt aa

  1. Wenn eine Angelegehnheit derart stark staatlich reguliert ist wie unsere Pensionskasse, kann man m.E. kaum von einer privaten Abmachung zwischen PK und Angestellte sprechen. Man hat auch kaum eine freie Wahl bezüglich dieser Abmachung. Ich kann mir jedenfalls kaum eine privilegiertere/behütetere Marktsituation vorstellen, als jene der Pensionskassen. Es wär mir mehr als recht, Herr Berset würde ihnen noch etwas mehr dreinreden…

  2. Wenn der Arbeitsmarkt bei den Spitzenkräften unserer Wirtschaft versagt, weil sich hier eine Wirtschaftselite gegenseitig überrissene Entschädigungen zuschanzt, geht es mich schon etwas an. Wir wollen nach der Abschaffung der Monarchien keinen neuen Geldadel auf unsere Kosten!

    Wenn Leute von ihrem Lohn nicht leben können und der Staat und die Sozialversicherungen für die Differenz zwischen Lohn und Lebenshaltungskosten aufkommen müssen, geht mich das auch etwas an. Ich will nicht via hohe Abgaben nicht konkurrenzfähige Unternehmen subventionieren.

  3. Lohndebatte: Frage des Anstands, nicht der Umverteilung!

    Die Gegner der 1:12-Initiative und der Mindestlohn-Initiative zeigen mit einem Wust an Statistiken, dass die verfügbaren Haushalteinkommen in der Schweiz im internationalen Quervergleich relativ gleich verteilt sind. Sie geben allerdings zu, dass die Mittelstandshaushalte in den letzten Jahren unterdurchschnittliche Lohnzuwachsraten in Kauf nehmen mussten, obwohl sie vermehrt zu „2-Personen-Verdiener-Haushalten“ geworden sind. Das ist heute offenbar nötig, um einen anspruchslosen Lebensunterhalt zu finanzieren. Das war in den 60er und 70er Jahren noch nicht der Fall.

    Die gezielt ausgewählten Verteilungsstatistiken gehen aber am Kern des heutigen Lohnproblems vorbei. Bei den heute laufenden Diskussionen um die zu hohen und zu tiefen Löhne geht es doch in erster Linie um Anstand.

    Zu den „Abzocker-Löhnen“
    Selbstverständlich kann man die Aufregung um die Löhne und Boni der Top-Leute als Neid abtun. Das ist aber zu kurz gegriffen. Klar ist, dass die durch allfällige Lohnkürzungen bei den Top-Leuten frei werdenden Mittel eher den Aktionären als den Mitarbeitenden zukommen würden. Im Zentrum dieser Diskussion müsste aber eine ganz andere Frage stehen: Was kann ein einzelner Manager/Verwaltungsrat maximal leisten und persönlich verantworten und welchen Lohn kann er dafür einfordern? Sind Manager/Verwaltungsräte mit Erfindern, Innovatoren, Spitzenkünstlern und –sportlern vergleichbar, denen ein hohes Einkommen aufgrund einer individuell nachweisbaren hervorragenden Leistung wohl am ehesten zusteht? Sind strategische Entscheide in der Wirtschaft nicht das Ergebnis der gesamten Führungsriege? Sind solche Entscheide nicht in hohem Umfang von Unwägbarkeiten (z. B. Konjunktur, Kundenverhalten) und Zufälligkeiten (z. B. Konkurrentenverhalten) abhängig, so dass der Erfolg oder Misserfolg eines strategischen Managemententscheids zu einem grossen Teil auf Glück oder Pech beruht? Müssen wir solche „Strategen“ wirklich so hoch entschädigen? Sind da wirklich nur Genies am Werk oder doch eher „Spielernaturen“? Oder hat sich da eine Kaste der Gutverdienenden im Windschatten eines unvollkommenen Arbeitsmarktes verselbständigt und schanzt sich gegenseitig attraktive Posten zu? Jedenfalls ist es unanständig, ein Gehalt zu beziehen, das weit weg ist von einer Entschädigung für Leistung und persönlicher Verantwortung.

    Zu den Minimallöhnen
    So wie der unvollkommene Arbeitsmarkt zu Exzessen bei den Top-Positionen geführt hat, so ist er auch mitverantwortlich für das Tieflohnsegment. Der Arbeitsmarkt ist unflexibler als gemeinhin angenommen wird. So führt der Zwang der Unqualifizierten, jede zumutbare Arbeit auch zu Tiefstlöhnen anzunehmen, um den Lebensunterhalt zu sichern, zu einer Machtposition der Arbeitgeber. Daneben beherrschen traditionelle Lohnvorstellungen und
    -verhältnisse, formelle und informelle Absprachen der Arbeitgeber den Arbeitsmarkt.
    Der Überschuss an wenig qualifizierten Arbeitskräften in der Schweiz, aber vor allem in Europa, hat dazu geführt, dass sich Unternehmen heute leisten können, Löhne zu bezahlen, die selbst bei Vollzeitbeschäftigung für die Führung eines eigenen Haushalts nicht mehr ausreichen. Sozialversicherungen oder der Staat müssen die Differenz bezahlen. Das ist nichts anderes als eine Subventionierung solcher Arbeitgeber. Begründet werden solche Tieflöhne mit der mangelnden Produktivität der entsprechenden Arbeitsstellen. Verkannt wird dabei, dass es in erster Linie die Tieflöhne selbst sind, die die mangelnde Produktivität begründen. So ist in den letzten Jahren die Produktivität im Gastgewerbe dank der verbesserten Gesamtarbeitsverträge gesteigert worden, obwohl in dieser Branche keine neuen Technologien eingeführt werden können.
    Was geschieht bei der Einführung von gesetzlichen Mindestlöhnen? Jene Arbeitsplätze werden verschwinden, welche nicht unbedingt nötig sind. Einige werden ins Ausland verlagert. Sofern davon Ausländerinnen und Ausländer betroffen sind, ist das nicht unbedingt negativ, da das Ausland heute dringender auf Arbeitsplätze angewiesen ist als die Schweiz. Selbstverständlich müssen wir in der Schweiz dafür sorgen, dass durch die relativ hohen Minimallöhne der Anreiz, in der Schweiz Arbeit zu suchen, nicht verstärkt wird. Dazu müssen wieder Zuwanderungskontingente eingeführt werden.
    Für die verbleibenden Stellensuchenden haben Kantone und Gemeinden neben Weiterbildungsprogrammen mittels Beschäftigungsprogrammen einen sekundären Arbeitsmarkt zu schaffen, auf dem ebenfalls die gesetzlichen Minimallöhne bezahlt werden. Sinnvolle Arbeit im öffentlichen Interesse und ohne Konkurrenzierung des primären Arbeitsmarktes gibt es genug, z.B. in den Bereichen Recycling, Betreuung, Wegunterhalt, Natur- und Landschaftsschutz, Hilfslehrer, also in allen Bereichen, wo heute auch Zivildienstleistende eingesetzt werden.
    Es ist unanständig, Löhne für eine Vollzeitbeschäftigung zu bezahlen, welche für die Führung eines eigenen Haushalts nicht ausreichen. Es ist auch unanständig, einsatzbereite Leute in die Arbeitslosigkeit abzuschieben, weil der Staat den Effort nicht aufbringt, sinnvolle, anständig bezahlte Beschäftigungsprogramme auf die Beine zu stellen.

  4. „Die Freiheit des Einzelnen geht so weit, bis er die Freiheit anderer tangiert“. Das ist ein altes Sprichwort, aber hat noch immer seine Gültigkeit. Leider wird aber Freiheit und Sicherheit gegeneinander ausgespielt. Freiheiten ausgenutzt bis zum Exzess und teilweise Freiheiten gefordert, die schon unanständig sind.

    Ich denke Toleranz und Anstand täten uns gut. Toleranz gegenüber anderen und Anstand gegenüber der Gesellschaft, in der wir leben. Das haben wir ein wenig verloren. Dafür machen wir die Faust im Sack.

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