Familienstrafe am Flughafen

Urs Birchler

Stehen Sie auch immer in der falschen, d.h. langsamsten Schlange? Kürzlich bei der Immigration an einem ausländischen Flughafen gelang es uns sogar, zunächst am falschen, dann am richtigen Schalter in der jeweils zähesten Kolonne zu stehen. Dabei nervt nicht nur die verlorene Zeit, sondern auch die eigene Dummheit, auf’s lahmste Ross gesetzt zu haben. Nun, in der Fremde muss man mit derartigem rechnen. Umso grösser die Verblüffung bei der Rückreise ins geliebte Heimatland mit Ankunft am weltweit gemäss Handelsblatt-Ranking drittbesten und gemäss World Airport Awards achtbesten Flughafen der Welt.

Die Behörden in ZRH unterscheiden drei Erscheinungsformen des homo immigrans: (1) Erwachsene mit elektronischem Pass; (2) CH/EU-Bürger ohne elektronischen Pass oder unter 18 Jahren und (3) „All Passports“. Als Schweizer Familie mit Kindern landeten wir in Gruppe (2), da unsere Buben zwar elektronische Pässe haben, aber noch nicht 18 Jahre alt sind. Soweit kein Problem. Nur: Für Erwachsene mit elektronischen Pässen stehen genügend Schalter zur Verfügung; deren Einreise verlief wie am Schnürchen. Ebenfalls mindestens sechs Schalter boten sich der sich bald verkleinernden Gruppe „All Passports“ an. Die Schweizer Familien, die das Schild CH/EU mit einem milden Inländervorrang verwechselten, brauchten hingegen Geduld. Für sie stand gerade ein einziger Schalter offen, und jeder Pass wurde so genau inspiziert, als ob jedes zweite Kind von seinen Eltern in die Schweiz entführt würde.

Was daran nervt: Es müsste den Zuständigen eigentlich bekannt sein, dass am letzten Sonntag der Herbstferien um morgens 6h ziemlich viele Flüge von ziemlich weit weg mit ziemlich vielen in der Schweiz ansässigen Familien ankommen. Mit teilweise müden Kindern (Dank übrigens an unsere bereits sehr gelassenen Buben).

Ich fragte mich: Hat der Grenzschutz Angst, man könnte ihm einen Inländer-(=Steuerzahler)-Vorrang vorwerfen? Oder müssen die Familien bloss eine Gedankenlosigkeit der Behörden ausbaden? Bevor mir eine Antwort einfiel, durften wir endlich selber die roten Büchli zeigen.

RentnerInnen im Ausland – ein kleiner Nachtrag

Monika Bütler

RentnerInnen im Ausland trügen nichts zur Wertschöpfung in der Schweiz bei, ärgerte sich die FDP Präsidentin Petra Gössi. Daher seien auch die 70 Franken Zuschlag für Neurentner abzulehnen, weil rund 30% der Pensionierten im Ausland leben. Tendenz steigend. Zu überlegen sei zudem eine Anpassung der Renten an die jeweiligen Lebenshaltungskosten der RentnerInnen im Ausland.

Der Aufschrei folgte sofort. Zu Recht. Erstens geht es niemanden etwas an, wo die Pensionierten ihren Lebensabend verbringen. Zumal gerade für ehemalige Gastarbeiter die Rente oft nur im Ausland genügend hoch ist für ein entspanntes Leben. In der Schweiz müssten sie dazu Ergänzungsleistungen beantragen. Zweitens haben sich diese Menschen den Anspruch auf ihre Rente genau so verdient, wie diejenigen, die in der Schweiz bleiben.

Drittens verstösst eine Indexierung der Renten an die Lebenshaltungskosten gegen das seit 1948 hochgehaltene Prinzip der Gleichbehandlung aller AHV Renter. Wie übrigens auch die 70 Franken gegen das Gleichbehandlungsprinzip verstossen. Wer aus Gründen der Gleichbehandlung gegen die 70 Franken Zuschlag ist, darf eine Ungleichbehandlung der Rentner im Ausland logischerweise nicht zulassen. Sonst müssten ja auch die Renten in Zürich höher sein als im Calancatal.

Viertens schliesslich habe ich Steuern (welche die Auslandrentner nicht in der Schweiz bezahlen) und Konsum (der nicht in der Schweiz bleibt) bisher nicht als Teil der Wertschöpfung eines Landes verstanden. Auch wenn Wertschöpfung meist ein schwammiger Begriff ist, Frau Gössis Interpretation ist doch eher etwas unkonventionell.

Ein wenig ist die Empörung dennoch heuchlerisch. Als Alternative zu den 70 Franken Zuschlag für alle Neurentner wurde gegen Ende der Debatte auch der Vorschlag diskutiert, stattdessen die Minimalrente um 450 Franken anzuheben. Bundesrat Berset begründete damals seine ablehnende Haltung gegenüber diesem Vorschlag unter anderem damit, dass 70% der Rentenerhöhung an AHV RentnerInnen im Ausland gehen würden. Der Aufschrei blieb aus.

Dichte ohne Einwanderung

Kurioserweise muss nun auch Tokyo als Illustration für den von Ecopop bekämpften Dichtestress herhalten. Kurios deswegen, weil Japan seit Mitte der 90-er Jahre nicht gewachsen und in den letzten paar Jahren sogar geschrumpft ist. Zudem kennt Japan kaum Einwanderung, der Anteil Ausländer ist mit rund 2% sehr klein. Auch eingebürgerte Ausländer gibt es sehr wenige.

Japan ist aus zwei Gründen ein interessantes Beispiel. Erstens illustriert das Land, dass ein bedeutender Teil der Dichte aus der Binnenwanderung stammt. Die Menschen ziehen somit freiwillig von weniger dicht bevölkerten Gegenden in die Städte desselben Landes. Zweitens zeigt Japan, dass ein Nullwachstum vielleicht doch nicht so erstrebenswert ist.

Zum ersten Punkt, der Binnenwanderung. In fast allen Ländern der Welt sind die Städte sehr viel stärker gewachsen als die ländlichen Gegenden (die oft sogar schrumpfen). Die Gründe sind vielfältig. Die gefühlte Lebensqualität in den Städten hat trotz Dichte offenbar zugenommen, Pendeln ist teurer geworden. Ganz besonders dürften aber ökonomische Gründe die Wanderung in die Städte begünstigen – dies wie oben aufgeführt auch ohne irgendwelche Einwanderung von aussen. Ein Forschungszweig der Volkswirtschaftslehre, die sogenannte Stadtökonomik oder urban economics“ befasst sich seit rund 20 Jahren mit diesem Phänomen. Ein starkes Wachstum der Städte wird dann beobachtet, wenn die Vorteile einer stärkeren Konzentration – Skalenerträge*, Verfügbarkeit von Arbeitskräften, Informationen und Netzwerken – gegenüber den Nachteilen wie Überlastung von Infrastruktur und Umwelt überwiegen.

(In Klammern: Die Australische Stadt Melbourne ist übrigens ein weiteres interessantes Beispiel. Die Stadt ist in den letzten Jahren pro Jahr rund 5% gewachsen, bis 2050 wird eine Verdoppelung der Bevölkerung erwartet. Der Hauptgrund dieser Bevölkerungsexplosion ist die Wanderung im Innern eines nicht wahnsinnig dicht bevölkerten Landes).

Zum zweiten Punkt, den Folgen des Nullwachstums. Wer Japan als gutes Beispiel eines erfolgreichen Umgangs mit Nullwachstem anfügt, muss Scheuklappen auf alle Seiten hin tragen. Einer relativ gut laufenden Wirtschaft in den Städten (ja genau: im Dichtestress), steht eine  schrumpfende Wirtschaft im ländlichen Japan gegenüber. Ein Idyll ist daraus nicht geworden. Überall leerstehende Fabriken und Häuser. Zur Sanierung der Industrieruinen fehlt das Geld, für die Pflege der Betagten die Arbeitskräfte. Der Lebensstandard auf dem Land ist in den letzten 20 Jahren merklich gesunken. Der Anteil der über 65-jährigen ist von rund 15% im Jahre 1995 auf fast 25% angestiegen. Natürlich erzeugt der Druck der Überalterung auch Innovationen: So werden zur Betreuung der Pflegebedürftigen Roboter entwickelt und eingesetzt. Doch ist das wirklich, was wir uns wünschen?

Auf dem vollständigen Preisetikett des Nullwachstums in Japan steht zudem eine massive Staatsverschuldung von – je nach Mass – 150 bis 250% der jährlichen Produktion des Landes. Die Staatsverschuldung nimmt nämlich bei Nullwachstum nicht ab, sondern zu. Zahlen müssen die Rechnung irgendeinmal – die heutigen Jungen.

*Skalenerträge entstehen dann, wenn eine Verdoppelung der Anzahl Arbeitskräfte und des Kapitals zu mehr als einer Verdoppelung der Produktion führt. Je grösser die Konzentration, desto mehr kann mit der selber Anzahl Arbeitskräften geleistet werden – was sich auch in höheren Löhnen niederschlägt.

Die Mühen von Ecopop mit Hong Kong und Singapur

Monika Bütler

Die Schweiz soll nicht wie Hong Kong oder Singapur werden. Ein griffiger und einleuchtender Slogan der Ecopop Befürworter. Nur leider falsch.

Natürlich möchten die meisten von uns (mich eingeschlossen) lieber in der Schweiz als in Hong Kong  leben. Nur ist der Vergleich der beiden asiatischen Städte mit der Schweiz unfair und berücksichtigt weder die Geschichte noch das wirtschaftliche, geopolitische und klimatische Umfeld der unterschiedlichen Gegenden. Das richtige Gegenstück im Vergleich mit Hong Kong oder Singapur wäre Hong Kong/Singapur ohne „Dichtestress“. Ein einfacher Blick über die Grenzen der beiden Städte zeigt: Die Wahl ist eben nicht zwischen 15 Quadratmetern/Person im Dichtestress und plus minus gleichem Lebensstandard auf 45 Quadratmetern/Person ohne Dichte. Sondern

  • zwischen 15 Quadratmetern/Person in guten hygienischen und relativ umweltfreundlichen Verhältnissen, mit Zugang zu öffentlichen Verkehrsmitteln, Arbeitsstellen und guten Schulen, welche den Kindern die Tür zur Welt offen halten.
  • und 15 Quadratmetern/Person in prekären Behausungen ohne ÖV, ohne adäquate Arbeitsplätze mit beschränkter medizinischer Versorgung und qualitativ schlechten Schulen. Und ja: mit Dreck und Umweltbelastungen.

Kein Bewohner Singapurs würde mit einem Bewohner ännet der Johor Strait tauschen wollen. Umgekehrt hingegen schon.

Da ich Singapur viel besser kenne, hier etwas Hintergrund zu Singapur. Nach der Unabhängigkeit Singapurs von Grossbritannien schloss sich die Stadt nach dem 1962 Merger Referendum der Federation of Malaya an (im Wesentlichen Malaysia, Sarawak und Nord Borneo). Die Gründe: Grösse des Landes, Knappheit an Wasser, Land und natürlichen Ressourcen. Die zwei Jahre in Union mit Malaysia waren allerdings geprägt von Auseinandersetzungen und Meinungsverschiedenheiten. So wollte Singapur eine Gleichbehandlung aller Rassen, Sprachen und Religionen, was vom Rest der Federation abgelehnt wurde. 1965 wurde Singapur aus der Federation geworfen, ohne in der Frage überhaupt angehört zu werden.

Interessanterweise wurde Singapur ein Stadtstaat contre coeur. Das heutige Singapur ist somit eine Antwort auf die Herausforderungen, welche dem neuen Staat mit dem knappen Land und der Abwesenheit von natürlichen Ressourcen erwuchsen. Wie auch die Schweiz setzte Singapur in der Folge auf eine wirtschaftliche Entwicklung, die auf Unternehmertum, technologischem Fortschritt und Ausbildung basierte. Und auf eine gewisse Einwanderung, welche den Fortschritt erst ermöglichte. Singapur hat heute eine durchaus restriktive Einwanderungspolitik; diese berücksichtigt jedoch die Bedürfnisse der Bevölkerung insbesondere nach Arbeitskräften, die im Lande selber fehlen. Mit einer Abschottung wäre der Vorsprung Singapurs gegenüber seinen Nachbarn schnell weg. Immigration ist eben nicht nur Folge der wirtschaftlichen Entwicklung, sondern auch teilweise deren Ursache.

So unterschiedlich Hong Kong oder Singapur und die Schweiz auch sein mögen. Auch bei uns muss der breite Wohlstand in den ländlichen Gegenden zuerst erwirtschaftet werden. In den viel dichter bevölkerten Städten nämlich oder den nicht so idyllischen Industriezonen. Die Umsetzung eines weiteren Slogans der Ecopop Befürworter – die Arbeitsplätze zu den Bewohnern bringen und nicht umgekehrt – würde nie und nimmer die Wertschöpfung bringen, die nötig wäre, um unseren Lebensstandard zu halten.

PS: Die momentane Popularität von Ecopop hat allerdings nicht viel mit deren Argumenten zu tun als viel mehr dem Schweigen und der Untätigkeit der Politik in den Diskussionen um die Folgen Personenfreizügigkeit (siehe meinen früheren Beitrag). Niemand erklärte den besorgten Bürgern, woher die (nicht so zahlreichen) Ausländer kommen, die wirklich Probleme machen (nämlich mehrheitlich nicht aus der EU). Auf griffige – auch während der Personenfreizügigkeit mögliche – Massnahmen gegen eine Einwanderung in den Sozialstaat (Rückführungen, Einschränkungen des Familiennachzuges, Straffung des Asylwesens) wurde verzichtet. Und wir warten bis heute auf eine vernünftige Einwanderungspolitik für Bürger aus Drittstaaten. Statt den Zug sanft zu bremsen, schielte die Politik viel zu lange auf die Notbremse (in Form der Ventilklausel). Die Notbremse zogen am 9. Februar andere. Im Tunnel.

 

Sollen nicht berufstätige Akademiker die Kosten für ihr Studium zurückzahlen?

Gebhard Kirchgässner

Kürzlich wurde vorgeschlagen, dass Akademiker einen Teil ihrer Ausbildungskosten zurückzahlen sollen, wenn sie freiwillig über längere Zeit nicht berufstätig sind. Damit soll u.a. dem Fehlen qualifizierter Fachkräfte begegnet werden. Damit würden freilich nur Symptome und nicht die Ursachen bekämpft, und zweitens hätte dies aller Voraussicht nach sehr negative Nebenwirkungen.

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BR Schneider-Ammanns fromme Wünsche

Wer batz.ch regelmässig liest, weiss: Bundesrat Schneider-Ammanns Wünsche zur besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie nach der Annahme der MEI sind hochwillkommen. Wir haben uns vermehrt zu den negativen Arbeitsanreizen des schweizerischen Steuer- und Subventionssystems geäussert, zuletzt unmittelbar nach der Abstimmung vom 9. Februar hier. Wenn die Zweitverdienerin effektiv fast das gesamte zusätzliche Einkommen in Form von Steuern und Betreuungskosten abgeben muss, die Schulstruktur keine geregelte (Teil-)Zeitarbeit zulässt, so ist es nicht verwunderlich, dass die Beschäftigung der Frauen in der Schweiz gemessen in Vollzeitäquivalenten relativ tief ist. Siehe dazu unsere Beiträge: Wie der Schweizer Mittelstand vom Arbeiten abgehalten wird, Familienartikel: Umbau der antiquierten Schulstruktur!, Kinderkrippen helfen gegen Lohnungerechtigkeit, und viele mehr.

Nur: Blauäugig ist, wer von den Massnahmen – selbst wenn sie sofort umgesetzt werden könnten – eine schnelle Wirkung erwartet. Die meisten Familien haben angesichts des heute vorherrschenden Schul- und Betreuungsangebot geplant. Will heissen: viele Frauen haben bewusst Berufe gewählt, die eine relativ geringe Teilzeitarbeit zulassen. Darunter hat es Ärztinnen und vielleicht sogar die eine oder andere Ingenieurin. Aber für viele der „stillgelegten“ Fähigkeiten dürfte sich die Nachfrage in Grenzen halten. Um es etwas böse auszudrücken: Aus den nun wenig beschäftigten Kunsthistorikerinnen werden nicht über Nacht Hausärztinnen, aus den Ethnologinnen keine Informatikerinnen.

Die Ursache für die hohe Nachfrage nach ausländischen Fachkräften liegt eben nicht nur in der Unterbeschäftigung von Frauen, sondern auch in der schweizerischen Bildungslandschaft. Heute sind 60% und mehr der Schüler(innen) an den Mittelschulen weiblich. Problematisch ist selbstverständlich nicht der hohe Anteil Mädchen, sondern die Tatsache, dass wir vielen intelligenten aber eher technisch-naturwissenschaftlichen Kindern die Schule vermiesen und ihnen teilweise den Weg zu einer Universitätsausbildung verbauen. Darunter sehr viele Buben, aber auch Migrantenkinder, die sich mit dem Überhang an sprachlichen Fächern und der Wichtigkeit (schwierig beurteilbarer) soft skills schwer tun. So sehr ich den dualen Bildungsweg für eine grosse Stärke des schweizerischen Ausbildungssystems halte: Chirurgen und Physiker gibt es kaum über diesen Weg. Diese Leute, die wir eventuell selber hätten ausbilden können, importieren wir später aus dem Ausland.

Um Missverständnisse auszuräumen: Ich begrüsse die angekündigten Massnahmen selbstverständlich. Die Unterbeschäftigung der Frauen in der Schweiz ist sehr teuer. Der sogenannte Gender Employment Gap – der Unterschied in Vollzeitäquivalenten zwischen Männern und Frauen – beträgt rund 40%, gleich hoch wie in der Türkei und deutlich höher als der OECD Durchschnitt von 30%. Gelänge es, diesen Gender Employment Gap nur schon auf den OECD Durchschnitt zu senken, könnten wir uns ein ganzes Jahr Erhöhung des Rentenalters eigenfinanzieren – für Mann und Frau, notabene.

 

Verdrängung

Monika Bütler

Der heutige Tagesanzeiger titelt: Ausländer ziehen in die Stadt, Schweizer aufs Land. Im Artikel wird eine CS Studie besprochen, die zeigt, dass die neuen Wohnungen in den Städten vollumfänglich von ausländischen Zuwanderern absorbiert werden. So weit so gut. Weiter geht es dann wie folgt: „Gleichzeitig verdrängt dieser Siedlungsdruck Schweizer in ländlichere Wohngebiete.“ Oder wie es später heisst: Die Schweizer rücken näher zusammen.

Wirklich? Das mit der Verdrängung ist nur eine mögliche Interpretation der Daten.  Es könnte – wie so oft – auch umgekehrt sein. Die Schweizer ziehen freiwillig aufs Land. Weder die eine noch die andere Interpretation der Daten lässt sich nämlich zweifelsfrei beweisen. Auf meine Nachfrage reichte der Autor des Artikels, Michael Soukup, freundlicherweise die sehr schlanke Studie der CS nach. Er begründete zudem (auf Twitter) die Verdrängungsthese mit dem Hinweis auf die Megatrends Re-Urbanisierung und Landflucht, die gegen meine alternativen Hypothese „freiwillig aufs Land“ sprächen.

Klar ist: Der Erhöhung des Wohnungsangebots stehen drei Veränderungen in der beobachteten Belegung der Wohnungen gegenüber: Eine Erhöhung der Zahl ausländischer Mieter, ein leichter Rückgang der Anzahl einheimischer Mieter und ein leichter Rückgang des durchschnittlich beanspruchten Wohnraums (was ja schon mal good News ist). Von „Bedarf“, übrigens, kann nicht die Rede sein. Der lässt sich gar nicht beobachten. Wir sehen in den Daten lediglich die effektive Belegung der Wohnungen.

Nun zur Interpretation: Dass die Ausländer die Schweizer verdrängen, lässt sich anhand dieser Daten nie und nimmer zeigen. Es ist eine mögliche Interpretation – und wohl diejenige, die in der momentanen Stimmung die meisten Likes generiert. Das heisst aber noch lange nicht, dass sie die richtige ist.

Dass die Schweizer näher zusammenrücken ist schon gar nicht in den Daten drin. In den Daten steht lediglich, dass die Mieter in der Stadt näher zusammenrücken. Das könnten aber genau so gut die Ausländer sein. Es ist sogar möglich, dass sich die Schweizer platzmässig ausdehnen, während sich die Ausländer viel dünner machen. Oder noch wahrscheinlicher: Das Zusammenrücken hat mit der Demographie zu tun. Die Stadt wird nachweislich jünger. Und die jüngeren wohnen in der Regel noch dichter. Viele urbane Junge ziehen später freiwillig aufs Land. Es könnte daher genauso gut sein, dass die Schweizer in der Familienphase freiwillig aufs Land ziehen und dass die Ausländer daher eher in der Stadt fündig würden. Auf jeden Fall sind mir keine Fälle bekannt, bei denen Schweizer zu Gunsten von Ausländern bei der Wohnungsvergabe diskriminiert wurden.

Meiner alternativen Interpretation stünden die Megatrends Re-Urbanisierung und Landflucht gegenüber. Ich bin nicht überzeugt. Die Re-Urbanisierung ist nur unter einem relativ kleinen, jungen, gut ausgebildeten und gut verdienenden Teil der Bevölkerung auszumachen. Für einen grossen Teil der Bevölkerung bleibt der Traum eines Häuschens auf dem Land auch in der heutigen Zeit bestehen. Die Re-Urbanisierung beschränkt sich zudem auf die In-Quartiere. Gerade in diesen Quartieren ist der Anteil der Schweizer aber nicht gesunken sind. Stadtgärtnern in Schwamendingen ist noch nicht angesagt.

Auch meine Interpretation lässt sich selbstverständlich nicht beweisen. Unplausibel ist sie aber nicht. Gerade in der heutigen aufgereizten Stimmung hätte es dem Artikel gut getan, alternative Erklärungen zuzulassen. Verdrängt werden leider nicht (nur) die Schweizer, sondern auch das Denken über den Mainstream hinaus. Ob rechts oder links spielt schon gar keine Rolle mehr.

Full disclosure. Die Autorin ist begeisterte re-urbanisierte Stadtgärtnerin und ehemaliges Landei (erst noch aus dem Aargau). Sie wohnt auf leicht unterdurchschnittlich vielen Quadratmetern in einem aufstrebenden Quartier. Und sie weiss – wie viele andere – wie verzweifelt die Suche nach der passenden Wohnung in Zürich sein kann.

 

Weiterwursteln nach Plan B

Monika Bütler

(Kurzkommentar zum Abstimmungsresultat über die Masseneinwanderungsinitiative der SVP, publiziert in der Weltwoche vom 13. Februar 2014)

Die Schweiz leistet es sich, junge Frauen sehr gut auszubilden, um sie später mit fehlenden Tagesschulen, steuerlichen Fehlanreizen und Vorurteilen aus dem Arbeitsmarkt zu ekeln. Nur knapp lehnte der Souverän eine explizite Belohnung des zu Hause-bleibens ab. Die Schweiz leistet es sich auch, intelligenten künftigen Ingenieuren und vollzeitarbeitenden Ärzten die Schule zu vermiesen mit einer Pädagogik, die weiche Faktoren höher gewichtet als Mathematik und Naturwissenschaften. Über eine längere Beschäftigung älterer Menschen denken wir schon gar nicht mehr nach. Für weniger ehrgeizige und produktive Junge ist Sozialhilfe ohnehin viel attraktiver. Damit sich die Anstrengung auch für die oben unerwähnten nicht lohnt, bietet der Staat Wohnraum und Betreuung einkommensabhängig an.

Die Lücken füllten motivierte Einwanderer. Und nun?

Wir sollten die Annahme der Masseneinwanderungsinitiative wenigstens zum Anlass nehmen, über die Verschwendung einheimischer Ideen und Fähigkeiten nachzudenken. Meine Vermutung: Am Schluss kommt doch Plan B zur Anwendung. Niemand wagt, Fehlentwicklungen zu korrigieren. Gesuchte Fachkräfte kommen nach wie vor – einfach unter undurchsichtigen, teuren Kontingenten. Plan B, B für Bürokratie.

Heimatschutz an Universitäten?

Monika Bütler

Mit etwas Verspätung meine Kolumne in der NZZ am Sonntag vom 24. März 2013. (Dafür bereits mit konstruktiven Reaktionen, u.a.: „Dass Sie einen solchen Dreck in einer Zeitung abdrucken lassen ist ein Skandal.“)

 „Nur deutsche Bewerber für Lehrstuhl an Schweizer Uni eingeladen!“ Dieser Aufschrei geht in regelmässigen Abständen durch die Medien. Es scheint offenkundig: Schweizer werden benachteiligt.

Meine eigene, langjährige Erfahrung mit Berufungen deckt sich nicht mit dem Klagelied; es wird wohl eher zugunsten der Schweizer entschieden. Nur gibt es dazu wenig Gelegenheit. Unbestreitbare Tatsache ist: Um akademische Positionen bewerben sich kaum Schweizer(innen).

Es fehlen eben – so argumentieren die Differenzierteren – einheimische Kandidaten, weil der Nachwuchs vernachlässigt werde. Doch halt: Geben nicht Hochschulen und Nationalfonds jedes Jahr riesige Summen für die Nachwuchsförderung aus? Auch wenn die Treffsicherheit bei der Vergabe manchmal zu wünschen übrig lässt: So unattraktiv können diese Programme nicht sein. An Bewerbern – Schweizern und Ausländern – fehlt es in der Regel nicht. Weiterlesen

Ziellos wandern

Monika Bütler

(publiziert in der Handelszeitung vom 20.12.2012, unter dem etwas krassen Titel „Migration: Gefährliches Spiel im Bunkerstaat“)

Mein älterer Sohn begleitete mich letztes Jahr nach Sydney. Er besuchte dort die gleiche Schule, an der er vier Jahre zuvor eingeschult wurde. Seither erhält er regelmässig elektronische Post aus Australien: „Dear Peter, Australia needs your skills…“ In den Newsletters wird er über die neuesten Entwicklungen an der Einwanderungsfront informiert und eingeladen, sich eine Emigration ernsthaft zu überlegen. Peter ist zwar erst in der fünften Klasse, er erfüllt aber – jung und in Ausbildung – offensichtlich die wichtigsten Kriterien für ein Arbeitsvisum – im Gegensatz zu seiner Mutter, die bereits an der Altersgrenze scheitert.

Mit Peters erstem Newsletter erreichte mich eine Anfrage meiner Uni: „Bitte teilen Sie uns mit, ob Sie neben der schweizerischen auch noch eine ausländische Staatsbürgerschaft besassen oder aktuell besitzen.“ Hintergrund des Schreibens: Die Internationalität der Faculty ist eine wichtige Einflussgrösse für die Platzierung einer Universität in den Rankings. Zerknirscht musste ich eingestehen, dass ich das Ranking belaste. Ich lebte zwar fünf Jahre im Ausland, aus meiner Familie stammen zahlreiche Auswanderer in die ganze Welt – sogar eine Kolumbien (Wunder) wirkende und später heiliggesprochene Nonne. Dennoch finden sich nicht einmal Spuren ausserhelvetischer Gene; sogar die Katze ist einheimisch. Meine Kinder beklagen sich schon, weil sie keinen spannenden Background haben, nun tut dies auch meine eigene Universität.

Das aktive Werben um hochqualifizierte Einwanderer wie in Australien wäre in der Schweiz unvorstellbar. Einwanderer verursachen zuerst einmal Probleme. In Australien unvorstellbar wäre hingegen, dass sich Australier für ihren Pass rechtfertigen oder sich die Kinder dafür schämen müssen. Man ist stolz, Australier(in) zu sein.

Die Situation ist paradox: Wie Australien hat die Schweiz ihren Wohlstand nicht zuletzt den unternehmerischen Einwanderern zu verdanken. Es gelingt unserem Land vorbildlich, selbst die Kinder wenig gebildeter Einwanderer zu integrieren. Nur noch Kanada hat eine höhere Erfolgsquote, dies mit Einwanderungsregeln, die Qualifizierte bevorzugen. Die Schweiz ist zudem ein äussert erfolgreiches Auswandererland; viele Spitzenköche, Hoteldirektoren, Spitzenmanager und Professoren stammen aus der Schweiz. Eigentlich müssten die Eidgenossen stolz auf diese Erfolgsgeschichte sein. Doch weit gefehlt: Die Ausländer stören, die Schweizer ebenfalls. Ein ausländischer Pass ist ein attraktives Accessoire; fürs Ranking bei den Universitäten, für die Diversity bei den Firmen, um auf dem Pausenplatz nicht als bünzlige Schweizerin zu gelten.

Passend dazu geht die öffentliche Diskussion oft völlig an der Realität vorbei. Erstes Beispiel: Wir hätten momentan eine aussergewöhnliche Masseneinwanderung, bildlich dargestellt durch eine jährlich einwandernde Stadt St. Gallen. (Warum wohl ausgerechnet St. Gallen für diesen Vergleich herhalten muss?) Dabei wanderten in den 60-er und 70-er Jahren jährlich sogar zwei St. Gallen ein. Und brachten der Schweiz nicht nur Wohlstand, sondern auch etwas Italianità und – wer wollte es heute bestreiten – besseres Essen.

Zweites Beispiel: Die Personenfreizügigkeit (PFZ) mit der EU sei die Quelle allen Übels, schuld an der Kriminalität, der Belastung der Sozialwerke, den Integrationsproblemen in den Schulen, der räumlichen Enge. Doch die widerlichen Drogenhändler im Zürcher Kreis 4, wegen der wir unsere Kinder noch immer in die Musikschule begleiten müssen, stammen offensichtlich nicht auf den PFZ Ländern. Die herumlungernden Halbwüchsigen im St. Galler Bahnhof ebenfalls nicht. Kaum einer der in der Presse präsentierten Sozialhilfebetrüger ist aus einer PFZ Region. Und die PFZ Kinder integrieren sich genau so gut wie die Schweizer Auswanderkinder im Ausland. Bei genauerem Hinsehen sind die EU Ausländer nicht einmal schuld an den hohen Mietpreisen und den überfüllten Zügen. Die Hauptreiber sind die Schweizer selber, die sich – unter tatkräftiger Mithilfe der Tiefzinspolitik – mehr Wohnraum (und wenn man böse sein wollte: mehr Scheidungen) leisten können.

Drittes Beispiel: Der Glaube, dass es uns ohne Ausländer genauso gut ginge – einfach ohne Ausländer. Es ginge uns eben kaum so gut. Und dies nicht nur wegen den Ärztinnen, Ingenieuren und Putzfrauen, die an allen Ecken und Enden fehlen. Wie bei Güterexporten bringt der Austausch von Fähigkeiten und der Wettbewerb der Talente mehr Produktivität. Wettbewerb stört zwar die Gemütlichkeit. Doch ohne Ausländer gäbe es viele der Arbeitsplätze, die uns die Ausländer angeblich streitig machen, gar nicht. Mit der Gemütlichkeit ist es schnell vorbei, wenn die Mittel dafür fehlen.

Einige Ausländer stören tatsächlich. Die schweizerische Migrations- und Asylpolitik ist nämlich genauso schräg wie die öffentliche Diskussion. Doppelt so viele Nicht-Europäer kommen zu einer Aufenthaltsbewilligung via Asyl als via reguläres Arbeitsvisum. Eines der bedeutendsten Ein- und Auswandererländer der Welt empfängt ausgerechnet die Hochqualifizierten mit der Migrationspolitik eines unattraktiven und verschlossenen Bunkerstaates. Und bestätigt dabei genau das Bild, welches den Schweizern im Ausland oft präsentiert wird und das unser Selbstbild prägt.

Höchste Zeit, selbstbewusster und optimistischer aufzutreten. Eine vernünftige Migrationspolitik sorgt dafür, dass wir nicht so werden wie es in der Anfrage der Handelszeitung für diesen Artikel so schön hiess: verwöhnt, verunsichert und international verlassen.