Ritalin-Verteufelung als Geschäftsmodell

Urs Birchler und Monika Bütler

Publiziert in der NZZ am Sonntag vom 6. April 2014.

Unwissenschaftlich – gefährlich – beängstigend. Das Interview mit dem Ritalin-Kritiker, Soziologen und angeblichen Uno-Berater Pascal Rudin in der NZZaS vom vergangenen Wochenende ist für uns als Familie mit einem ADHS-Buben ein Schlag in die Magengrube.

Ritalin ist das führende Medikament gegen die meist bei Kindern diagnostizierten Aufmerksamkeitsstörung ADHS. Laut Rudin seien 95 Prozent der Ritalin-Verschreibungen in der Schweiz überflüssig. Diese Zahl ist frei erfunden. Umgekehrt weiss niemand, wie viele ADHS-Kinder Medikamente bräuchten, aber nicht bekommen. Noch dreister die längst widerlegte Behauptung: Ritalin führe zu Parkinson. Die Wirklichkeit: Ritalin wird heute als Mittel gegen Parkinson getestet! Es hat tatsächlich Nebenwirkungen – nur: Schlimmere Nebenwirkungen hat die Verweigerung von Ritalin an Kinder, die stattdessen den Verlockungen anderer beruhigender Substanzen (Alkohol, Nikotin, Drogen) erliegen.

Für Ärzte ist klar: ADHS ist keine gesellschaftliche Fehlentwicklung, sondern eine Krankheit. Und nur weil sie im Kopf ist, bringt man sie nicht einfach mit gutem Willen weg. Wir deuteten die Zappeligkeit und Wutanfälle bei nichtigstem Anlass im Kindergartenalter bei unserem Sohn noch als normales Kindsein. Spaghetti-Teller, die an die Wand flogen, wurden mit „ohne Znacht ins Bett“ bestraft. Die Schule ging zunächst gut; auch andere Kinder verlieren die Jacke oder lassen den Thek im Tram stehen. In der zweiten Klasse aber löste sich das Schriftbild unseres Älteren auf, er schaffte einfache Legomodelle nicht mehr, Anrufe der sehr verständnisvollen Lehrer wurden häufiger, Kameraden wandten sich ab, sein Selbstvertrauen zerfiel.

Ein befreundeter Arzt empfahl uns den Jugendpsychiatrischen Dienst. Familiengespräche, Abklärungen, Verhaltenskurs und die Diagnose: ADHS. Ganz zuletzt die verzweifelte Hoffnung namens Ritalin. Und tatsächlich: Unser Sohn ist heute ein immer noch zappeliger und zerstreuter Sechstklässler – von „ruhiggestellt“ keine Spur –, aber man kann seine Schrift lesen, er liest, liebt Mathe. Am allerwichtigsten: er hat wieder Freunde.

Die gängige Ritalin-Verteufelung verunsichert Eltern und zerstört Familien. Wissenschaftlich eindeutig belegt ist: Kinder mit ADHS-Symptomen haben – bei gleicher Intelligenz und Herkunft – schlechtere Noten, schlechtere Karrierechancen,und eine viel höhere Wahrscheinlichkeit, eine Klasse zu repetieren und in der Drogensucht oder Kriminalität zu enden. Erwachsene mit unbehandeltem ADHS haben ein deutlich höheres Unfallrisiko. Wer diesen Kindern Ritalin vorenthält, prellt sie um die Chance auf einen Schulabschlusses, der ihren Fähigkeiten und Neigungen entspricht, auf ein entspanntes und gewaltfreies Leben.

Ritalin-Kritiker behaupten, ADHS habe es früher nicht gegeben. Tatsächlich sprach man nicht von ADHS, sondern band die unruhigen Störenfriede an die Stühle, warf sie später aus der Schule oder in die Sonderschule und sandte sie als billige Hilfskräfte auf einen Bauernhof.

Rudin haut auch wacker in die Kerbe „Ritalin versus Kreativität“. Wie bei der Angst vor den Ausländern scheint die Verteufelung von Ritalin umso ausgeprägter, je weiter jemand vom Problem entfernt ist. Besteht Kreativität in Schreikrämpfen, in verzappelten Nachmittagen über dann doch nicht gelösten Hausaufgaben und in Haarbüscheln von Bruders Kopf? Oder heisst Kreativität, auch mal stillsitzen können, Gedanken ordentlich aufschreiben und sich am Ende über eine gelöste Aufgabe oder eine gelungene Zeichnung freuen?

Kurz: Ritalin ist ein Segen für die Kinder, die es brauchen und – zugegebenermassen – für ihre Eltern. Es ist auch ein Segen für um Aufmerksamkeit ringende Geschwister, die, wie unser Jüngerer, das Glück haben, ihr Potential ohne Medikamente ausschöpfen zu können. Keine Mutter und kein Vater geben ihrem Kind leichtfertig Ritalin. Für viele ist es der letzte Ausweg.

Weshalb denn stürzt sich die Gesellschaft plötzlich auf ADHS-Kinder? Müssen Diabetiker fürchten, sich bald vor Insulingegnern rechtfertigen zu müssen? Sollen wir nächsten Winter heimlich zur Grippeimpfung gehen?

Das untrüglichste Anzeichen für Hexenjagd liefert Rudin gleich selbst: Die Mütter sind schuld. Sie seien es, die gegenüber den zögernden Vätern die Pille durchsetzen. Dass die Mütter auch den grössten Anteil an ADHS-bedingten Krisen abzuwettern haben, geht vergessen. Wetten, dass Mütter auch die meisten Fieberzäpfchen geben?

Damit bleibt die Kernfrage: Woher kommt die gesellschaftliche Ritalin-Hysterie, die zunehmende Bevormundung der Eltern? Und wie werden wir sie wieder los? Hier, endlich, wäre die Soziologie gefragt. Und genau hier bleibt Soziologe Rudin – mucksmäuschenstill.

12 thoughts on “Ritalin-Verteufelung als Geschäftsmodell

  1. Wir sind sehr, sehr froh über Ihre klare und differenzierte Stellungnahme, vielen Dank.

  2. Liebe Frau Bütler

    Sie sprechen mir, Sozialpädagogin mit langjähriger Erfahrung in der Betreuung und Begleitung von AD(H)S-Kindern und selbstbetroffene Mutter, aus dem Herzen. Vielen, vielen Dank.

  3. Wir danken Ihnen für Ihre Stellungsnahme. Wir haben ein sehr ähnliche Lebensgeschichte mit unserem Sohn erlebt. Die Stigmatisierung von Ritalin durch alle möglichen Gruppen und Personen ist für die Betroffenen und deren Angehörige eine zusätzliche und unnötige Belastung.

  4. Wohltuend klare Worte zu einem unnötig polarisierten Thema. Die selbsternannten Experten, die angeblich „wissen“, dass die „allermeisten“ Verordnungen von Ritalin unnötig sind, schießen wie Pilze aus dem Boden.
    Niemand unterstellt Angehörigen von Depressiven, dass sie dem Betroffenen Antidepressiva geben, weil sie ihn zu wenig lieben, um seine ewige Leidensmiene zu ertragen; es ist sonnenklar, dass hier ein Leid vorliegt. Angehörige von ADHSlern sehen sich hingegen genau diesem Vorwurf ausgesetzt.
    Es wird viel zu viel über ADHSler gesprochen und zu wenig darüber, wie es ihnen tatsächlich geht.

  5. Herzlichen Dank für das klare Statement!
    Weniger das ADHS ist interessant, als das auseinanderklaffen von kollektiver Vorstellung von „Kindheit“ und Realität. Das ideologisierte Bild einer korrekt-glücklichen Kindheit wird zu einer Goldgrube für ehrgeizige, aber intellektuell oder ideologisch defizitären Leute. Für Betroffene ist das im „besten“ Fall verletzend; wenn Diagnostik und Therapie verpasst werden ist es dramatisch! Wer einem Kind mit einem ADHS/ADS eine medikamentöse Hilfe verweigert, verweigert ihm eine gemässe Entwicklung, verletzt dessen Recht fundamental! Wir haben zwei Kinder mit einem ADHS. Der lokale Schulpsychologische Dienst hat uns jahrelang mit Erziehungstips bedient. Die Diskrepanz zwischen eigenhändig gemessenem IQ und Schulabsturz wurde auf bemerkenswerte Weise ideologisch überbrückt. Die SekB Einteilungen sind Geschichte. Beide sind an einer Kantonsschule und ohne viel Lernaufwand sehr gute, kreative(!) Schüler. Mit Ritalin.
    (Man kann Kinder mit einem ideologischen Programm vernichten. Das ist nichts neues: Keller / grüner Heinrich ca. S 30 / Das Merethli).

  6. Ich gebe ihnen recht.
    Bei mir wurde im Kindergartenalter bereits ADS vermutet, allerdings dann doch nicht diagnostiziert.
    Eine Klasse in der Primarschule musste ich repetieren.
    Durch Druck meiner Eltern, hohem Pflichtbewusstsein und viel Nacharbeiten Zuhause schaffte ich trotz schlechter Konzentrationsfähigkeit die Sek A.

    Die ADS Diagnose mit Medikation kam erst mit 18.
    Leider ist das auch kein Wundermittel.
    Aber frühe Medikation ist wichtig, damit Kinder ihr Potential ausnützen können.
    Es ist alles viel schwerer, wenn man dem Lehrer nicht zuhören kann, obwohl man das will.

  7. Von ganzem Herzen Danke für Ihr Statement Frau Bütler! Seit Jahren nerve ich mich über Ritalin-verteufelnde Artikel. Sie haben mir genau aus der Seele gesprochen.
    Als Eltern von ADHS-Kindern brauchen wir überdurchschnittlich viel Energie, um den geregelten Alltag zu überstehen und dem Kind eine „potential-fördernde“ Begleitung anzubieten. Auch das Zurechtkommen im Dschungel der mehr oder weniger qualifizierten Fach- und Begleitpersonen ist kräftezehrend. Zusätzlich dürfen wir uns mit Anklagen und Verurteilungen aus den Medien und manchmal sogar aus dem Umfeld herumschlagen, die – im schlimmsten Fall – auch noch Zweifel am eingeschlagenen Weg wecken… Wie viel lieber würde ich ermutigt werden und Verständnis und Anerkennung für die erbrachten Leistungen erhalten!

  8. Leider habe ich erst heute den Beitrag entdeckt. Er tut aber sehr gut und spricht sicher vielen Eltern von ADHS-Kindern, Jugendlichen bzw. eben auch den selbst betroffenen ADHSlern aus der Seele. Es ist unglaublich, welchen Angriffen man immer noch ausgesetzt ist und es natürlich auch wegen der eigenen Impulskontrollschwäche leicht, die Eltern bzw. Kids auf die Palme zu bringen. Umso wichtiger wäre dann sachliche Aufklärung. Danke für das Einmischen !

  9. Pingback: Von Modekrankheiten, AD(H)S und Schustern, die bei ihren Leisten bleiben sollten. | Angry Sascha is angry.

  10. Welches Geschäftsmodell soll es sein, dass Sie in der Überschrift suggerieren? Ich sehe bei Hrn. Rudin keines im Gegensatz zu denen, die das Pharmakon verkaufen möchten.

  11. Diesen Kommentar hatten wir übersehen. Bitte entschuldigen Sie. Geschäftsmodell: Herr Rudin versucht, seine (unkundigen) Ratschläge in Bekanntheit umzusetzen. Das Gewinnmotiv der Pharma-Industrie ist im übrigen nicht notwendigerweise schlecht. Sonst können Sie einmal versuchen, nur noch Dinge zu beziehen, die Ihnen aus Nächstenliebe angeboten werden. Wie zum Beispiel diesen Blog 😉

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