Im falschen Film

Monika Bütler

Veröffentlicht, leicht gekürzt, in der NZZ am Sonntag vom 12. August 2012 unter dem Titel „Die Altersgrenzen für Kinofilme sind sinnlos“

Regensonntage sind Kinosonntage, dachten wir vor einigen Wochen und bestellten Tickets für den Dokumentarfilm Violinissimo. Mit dabei waren unsere Kinder, der Jüngste ein Drittklässler und begeisterter Geigenspieler. „Sie wissen, dass der Film erst ab 16 Jahren freigegeben ist?“ fragte uns die freundliche Dame an der Kasse. Lange Gesichter; nein, das war uns nicht bewusst. Was denn um Himmelswillen am Film schlimmer sei als an den unsäglichen Folgen von Star Wars, die wir Eltern gelegentlich erdulden, meinte mein Mann verzweifelt. Violinissimo begleitet drei Teilnehmer durch die Höhen und Tiefen des Joseph-Joachim-Violinwettbewerbs. Der Film ist sehr interessant und spannend – und absolut harmlos. Kein Schuss, kein Kuss, auch keine mentale Gewalt. Wettbewerb schon, und nicht alle können am Ende gewinnen. Aber keine verstörende Geschichte, welche eine Begleitung durch einen Psychologen notwendig machte.

 Des Rätsels Lösung (hier verkürzt wiedergegeben): Aus Kostengründen wurde der Film nicht der privaten Freiwilligen Selbstkontrolle der deutschen Filmwirtschaft FSK zur Visionierung vorgelegt. Dieses Gremium – uns zuvor unbekannt – hätte den Film nach einer eingehenden Prüfung durch diverse Fachleute mit einem entsprechenden Label versehen. Ohne dieses Zertifikat aber gilt automatisch das gesetzliche Mindestalter von 16 Jahren. Gesetzliche Grundlagen des Verfahrens sind Jugendschutzgesetze, welche verhindern sollen, dass den armen Kindern durch böse Filme Angst gemacht wird.

 Wer sich durch die Unterlagen der FSK durchgekämpft hat, begreift schnell, weshalb Violinissimo kein Einzelfall ist. Für viele kleine Verleger sind die mehrere Tausend Franken (eine genaue Zahl war nicht zu eruieren) viel zu viel, um sich freiwillig selbstkontrollieren zu lassen. Bei anderen landen wahrscheinlich ansehnliche Beträge staatlicher Filmfördergelder wegen dieser vom Staat geforderten Kontrolle in privaten Händen. Ohne künstlerischen Nutzen.

 Die FSK-Freigaben sind durchaus informativ. Sie als freiwillig zu bezeichnen, ist angesichts der rechtlichen Bindung der Empfehlungen allerdings ein Witz. Der faktische Zwang spottet auch einer Gesellschaft, die auf Vernunft und Eigenverantwortung baut. Überhaupt: Weshalb muss der Filmverleger den Beweis der Unbedenklichkeit durch eine private Zertifizierung selber erbringen. Viel unbürokratischer wäre das Umgekehrte: Die Verleger deklarieren selber nach bestem Wissen und Gewissen. Der Jugendschutz schreitet erst ein, wenn er begründeten Verdacht einer Irreführung hat.

Noch schlimmer ist, dass die staatlichen Behörden den Eltern und der Schule überhaupt nicht mehr trauen. Und dies sogar im öffentlichen Raum, wo die freiwillige Selbstkontrolle meist gut funktioniert.  Niemand würde es wagen, mit einem Drittklässler im Kino Die Vögel von Alfred Hitchcock anzusehen. Und sollte er es dennoch tun, würde er wahrscheinlich spätestens an der Kasse von diesem Vorhaben abgehalten.

Zuhause gibt es keine solche Kontrolle. Klar gibt es unter den Eltern immer wieder schwarze Schafe: Wir haben unseren beiden Buben Die Vögel tatsächlich zugemutet. Es nützen also die raffiniertesten Label nichts, wenn die Eltern ihre Aufsichtspflicht nicht wahrnehmen. Wir haben aber Schelte bezogen und würden es nicht mehr tun. Um die Eltern kommt der Staat gleichwohl nicht herum. Weshalb dann nicht auch im Kino die begleitenden Eltern entscheiden lassen?

Es geht ja nur um Filme, könnte man argumentieren, ein Luxusproblem also. Doch mit obligatorischen Kindersitzen, baulichen Einschränkungen zum Wohle der Jüngsten und Hüte-Lizenzen werden Eltern und Lehrer – unter dem Titel Jugendschutz und Sicherheit – mehr und mehr entmündigt. Irgendeinmal wird der Regeldschungel so dicht, dass die Erzieher und Ausbildner bei einer allfälligen Regulierungslücke aus Mangel an Übung den Kompass tatsächlich verlieren.

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