Wachstum und Wohlstand I: (Ist) War Irland reicher als die Schweiz?

Für einmal stellt die OECD der Schweiz ein gutes Zeugnis aus: Sie habe die Finanzkrise im Vergleich mit anderen Ländern sehr gut gemeistert. Kritisiert wurde hingegen wie schon beim letzten Bericht die relativ geringe Arbeitsproduktivität. Trotz sehr hohem Pro-Kopf-Einkommen liege die Schweiz hier nur im Mittelfeld der OECD Mitglieder.

Nicht immer erhielt die Schweiz von der OECD und anderen Stellen (relatives) Lob. Selbst im Pro-Kopf-Einkommen sei die Schweiz zurückgefallen, hiess es das letzte Mal. So zeigten die Zahlen (siehe Graphik), dass beispielsweise Irland seit 2002 die Schweiz im (Kaufkraft-bereinigten) Pro-Kopf-Einkommen überholt habe. Weiter noch gingen die Amerikaner Tim Kehoe und Kim Ruhl von der University of Minnesota. Auf die Frage „Is Switzerland in a Great Depression?“ antworteten sie im Jahre 2004 mit einem klaren Ja: “ We conclude that Switzerland has indeed suffered a great depression and, in fact, is mired in it even today.“

Dass die Schweiz ein Wachstumsproblem habe, entsprach der Einschätzung der meisten Ökonomen. Der Konsens war so stark, dass der Zwischenruf von Prof. Ulrich Kohli «Das Problem ist nur halb so schlimm» für Verwirrung unter den Teilnehmern einer Tagung von Avenir Suisse sorgte. Der damalige Chefökonom der Nationalbank monierte, in den offiziellen BIP-Zahlen werde das Wachstum der Schweiz wegen Messproblemen um 1 bis 1,5% jährlich unterschätzt. Ein riesiger Unterschied.

Ulrich Kohli, ein international anerkannter Wissenschafter, meinte, dass es völlig unplausibel sei, dass Irland ein höheres Pro-Kopf-Einkommen hätte als die Schweiz. Und musste darauf gleich von zwei Seiten Prügel einstecken. Von den Verfechtern der Diagnose Wachstumsschwäche (unter Einschluss des seco) für eine Beschönigung der desolaten Lage der Schweiz. Von der irischen Regierung, weil er die Erfolge in der irischen Wachstumspolitik anzweifle.

Selbst Ulrich Kohli schätzte, dass Irland auch mit „richtig“ gemessenen BIP-Werten die Schweiz tatsächlich bald überholen würde, sollte sich der Trend fortsetzten. Doch dies scheint zumindest momentan nicht der Fall zu sein. Irland befindet sich in einer dramatischen Wirtschaftskrise mit einem Einbruch des (kaufkraftbereinigten) Pro-Kopf-Einkommens von beinahe 7% in 2009 und einer Arbeitslosenrate von 12%, die in 2010 auf über 15% ansteigen dürfte. Dagegen muten der relativ geringe Rückgang des schweizerischen Pro-Kopf-Einkommens um circa 1% und die Arbeitslosenquoten von 3,5% für 2009 und von geschätzten 4,5% für 2010 fast schon idyllisch an.

Weshalb ist es überhaupt so schwierig, das Einkommen eines Landes zu messen? Wie kann es sein, dass ein Land gleichzeitig ein hohes Pro-Kopf-Einkommen und eine geringe Arbeitsproduktivität hat? Wie ist es möglich, dass die Wachstumsraten von europäischen Ländern über viele Jahre um mehrere Prozent auseinanderliegen? Und wie ist es möglich, dass Zahlen und Wahrnehmung so stark auseinanderliegen können? Ist das Pro-Kopf-Einkommen eventuell gar nicht das richtige Mass, den Wohlstand eines Landes zu messen?

Fortsetzung folgt.

Dank an Stefan Staubli für die Mitarbeit bei der Aufbereitung der Daten.

One thought on “Wachstum und Wohlstand I: (Ist) War Irland reicher als die Schweiz?

  1. Über einen Artikel im Tagi (24.5.2014) bin ich auf Ihre Webseite gestossen. Das ist ja eine geballte Ladung von ausgewiesenen Wirtschaftsfachleuten.
    Mich beschäftigt schon seit langem die Frage des Wachstums und der Nachhaltigkeit der Wirtschaft. Bisher bekam ich von Ökonomen ausser logischen Killerphrasen (Wachstum ist notwendig, ohne geht die Wirtschaft unter. Die Bevölkerung wächst, also muss auch die Wirtschaft wachsen. Man kann doch den Chinesen nicht den Wohlstand verbieten. Etc.) keine befriedigende Antwort.
    Der Club of Rome hat die Grenzen des Wachstums aufgezeigt, wobei sich diese Grenzen bisher immer wieder verschoben haben. Es geht nicht nur um die begrenzten Ressourcen, sondern auch um den begrenzten Konsum. Wir dürfen uns nicht vorstellen, was passieren würde, wenn der „arme“ Bevölkerungsanteil den Lebensstandard der USA oder Westeuropas erreicht. Die Welt ermöglicht und erträgt dieses Wachstum nicht. Wir sollten deshalb die Grenzen des Wachstums als Ziel unserer Aktivitäten sehen und die ganze Wirtschaft darauf einstellen. Nicht wie der Frosch vor der Schlange die säkulare Stagnation als Gefahr sehen, sondern als letzte Chance.

    Ist die Zukunft ohne Wachstum so düster? Können sich die Ökonomen eine Weltwirtschaft ohne Wachstum denken? Wurden seriöse Forschungsarbeiten in dieser Richtung gemacht?

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